: Leben ohne Ochs und Esel
Jan Lorenzen und Thomas Kunze erzählen erstmals ausführlich von einem einst talentierten Rhetoriker und Reformer, der ein ganzes Land ruinierte: Erich Honecker
Es ist schon verwunderlich: Seit dem Zusammenbruch der DDR hat sich niemand zu einer Biografie von Erich Honecker aufgerafft. Die Historiker interessieren sich bislang kaum für den einst allmächtigen „Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR“, sie erforschen lieber das Leben seines Staatssicherheitsministers Erich Mielke – und liefern so einen schönen Beleg für das Stasi-Syndrom der gesamten DDR-Geschichtsschreibung.
Jan N. Lorenzen, Autor des Fernseh-Dokudramas „Die Sekretäre“, zeichnet nun Honeckers Lebensweg zum ersten Mal umfänglich nach. Der Spießer von Wandlitz ist bei ihm, was er war: ein deutscher Kommunist – bereits im heimatlichen Wiebelskirchen (Saarland) ideologisiert und für immer milieugeschädigt. Honecker gilt früh als begabter Rhetoriker und wird dementsprechend nicht Dachdecker, sondern hauptamtlicher KPD-Funktionär. 1935 erwischt ihn die Gestapo bei der konspirativen Arbeit. Er hat Glück und muss „nur“ zehn Jahre im Zuchthaus Brandenburg einsitzen.
Gleich nach der Befreiung stößt Honecker im Mai 1945 zur Gruppe um Walter Ulbricht, die den staatlichen Neuaufbau nach dem Motto organisiert: „Alles muss demokratisch aussehen, aber an den wichtigen Stellen müssen unsere Leute sitzen.“ In diesem Sinne gründet Honecker eine Jugendorganisation, die Freie Deutsche Jugend (FDJ), und agiert bis 1989 im Machtzentrum der deutschen Moskowiter. 1946 wird er Mitglied des SED-Parteivorstandes, ab 1958 Vollmitglied des Politbüros. Als ZK-Sekretär für Sicherheit erhält er schließlich eine welthistorische Aufgabe: Er leitet 1961 den Organisationsstab für den Berliner Mauerbau.
Zehn Jahre später stürzt er seinen Ziehvater Ulbricht und erreicht mit seinem Programm der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ in den Siebzigerjahren eine deutliche Steigerung des Lebensstandards. Der Nachteil: Wirtschaftlich führt es das rote Preußen in den Ruin. Denn nicht nur die Nettoeinkommen verdoppeln sich in der Honecker-Ära, auch der Personalbestand des Stasi-Ministeriums.
Lorenzens biografischer Abriss ist eine solide Gesamtdarstellung. Sie beruht allerdings ausschließlich auf Sekundärliteratur. Völlig unverständlich ist, warum der Autor die reichhaltigen Materialien, die das SED-Parteiarchiv und die Birthler-Behörde bieten, nicht genutzt hat. Ebenso betrachtet das Buch kaum die Wirkung von Honeckers Politik auf den DDR-Alltag. Immerhin sagten nicht nur viele DDR-Bürger „Das schreib ich an Honecker“, sie machten es auch zu Zehntausenden.
Wie nützlich ein Blick in die Archive sein kann, zeigt Thomas Kunzes anschauliches Buch über Honeckers Schicksal nach 1989. Der Leipziger Autor hat die Abwahl des SED-Chefs in Politbüro und ZK anhand der Akten mustergültig rekonstruiert. Auch skizziert er das Erschrecken der DDR-Bürger über ihren gestürzten Herrscher: Was Honecker zu den Entwicklungen im Lande während der Wendezeit sagte, war banal und dumm; er schien offenkundig außer Stande, die Ereignisse intellektuell zu verarbeiten. Für viele war der Greis nicht mehr satisfaktionsfähig, weder moralisch noch juristisch. Seinen Rückzug von Lobetal über Beelitz, Moskau, Berlin nach Santiago de Chile wurde nur noch am Rande wahrgenommen.
Grundthema Kunzes ist allerdings die Strafverfolgung. Sie beginnt als Farce: Ehemalige SED-Staatsanwälte und die Stasi ermitteln seit Januar 1990 wegen „Hochverrats“ gegen Honecker. Erst die bundesdeutschen Behörden können eine einigermaßen plausible Anklage formulieren. Honecker wird wegen der Mauertoten angeklagt, in seiner an sich wenig bedeutsamen dritten Staatsfunktion: als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates. Wie auch die damaligen Beobachter ist Thomas Kunze skeptisch, ob die Anwendung der Menschenrechtscharta eine hinreichende Grundlage für den Prozess war. Das spielt letztlich jedoch keine Rolle, da Honecker im Januar 1993 aus gesundheitlichen Gründen ins Exil entlassen wird. Das alles zeichnet Kunze kundig nach und hat damit Maßstäbe für die noch ausstehende große Honecker-Biografie gesetzt. HEIKO HÄNSEL
Jan N. Lorenzen: „Erich Honecker. Eine Biographie“, 234 Seiten, rororo, Hamburg 2001, 8,90 €ĽThomas Kunze: „Staatschef a. D. Die letzten Jahre des Erich Honecker“, 224 Seiten, Christoph Links Verlag, Berlin 2001, 19,50 €
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