: Wo steht der Feind?
aus Berlin BETTINA GAUS
Das Verteidigungsministerium habe „keine Notfallpläne“ in der Schublade, erklärte Sprecher Franz Borkenhagen – und angesichts der bisherigen Amtsführung von Rudolf Scharping ist an dieser offenherzigen Mitteilung kaum zu zweifeln. Der Minister versucht Probleme ja gerne dadurch zu lösen, dass er sie nicht zur Kenntnis nimmt. Nun scheint er auch im Zusammenhang mit dem für nächste Woche erwarteten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vereinbarkeit der Wehrpflicht mit dem Grundgesetz daran festhalten zu wollen. Das wird allerdings ziemlich schwierig.
Dienen …
Wie immer das Urteil ausfällt: Die Wehrdienstgegner dürften sich dadurch bestätigt fühlen. Dabei erwarten Beobachter keinesfalls, dass der Richterspruch – einem Donnerschlag gleich – die Wehrpflicht sofort ins Archiv der Geschichte verbannt. Vielmehr wird mit einem zurückhaltend formulierten Auftrag an die Politik gerechnet, Konsequenzen aus der neuen Lage nach dem Ende des Kalten Krieges zu ziehen. Im Kern geht es bei dem Verfahren um nichts anderes: 1999 hatte das Landgericht Potsdam die Wehrpflicht wegen der „fundamental veränderten sicherheitspolitischen Situation“ für verfassungswidrig erklärt. Es hatte damals den Fall eines Totalverweigerers zu verhandeln, der sich sowohl gegen den Wehr- als auch gegen den Zivildienst sperrte.
Den Gegnern der Wehrpflicht wird auch ein vielschichtiges Urteil als Initialzündung für eine neue Grundsatzdebatte genügen – und sie haben durchaus Grund zu der Hoffnung, daraus siegreich hervorzugehen. Immerhin eint eine Position, die früher prinzipientreuen Pazifisten vorbehalten war, mittlerweile Anhänger sehr unterschiedlicher sicherheitspolitischer Vorstellungen in einer seltsamen Allianz.
Die kleineren Parteien lehnen den Wehrdienst allesamt ab. Seit die Grünen die Zustimmung zu aggressiven Militärinterventionen für den Nachweis von regierungsfähigem Verantwortungsbewusstsein halten, ist der PDS die Rolle als Alleinvertreterin einer militärkritischen Haltung in den Schoß gefallen. Ebenso wie die Reste der Friedensbewegung begründet sie die ablehnende Haltung aller „Zwangsdienste“ mit einer prinzipiell antimilitaristischen Position. Und findet sich damit unvermutet an der Seite der FDP. Wenn schon nicht in der Begründung, so doch im Ergebnis.
Die Liberalen stehen allen staatlichen Eingriffen gleichermaßen skeptisch gegenüber und wollen folgerichtig zugleich mit der Aussetzung des Wehrdienstes auch den Zivildienst umstandslos entsorgen – in der Hoffnung, dass anschließend „die Bereitschaft zu freiwilligem sozialen Engagement“ wächst, wie es in dem entsprechenden Parteitagsbeschluss vom 17. September 2000 heißt.
… und dienen lassen
Die Grünen haben im Blick auf die Wehrpflicht ihre – ursprünglich pazifistisch motivierte – Ablehnung beibehalten und können sich nun als Verfechter einer Modernisierung der Armee präsentieren. Eines ihrer Argumente: Die Wehrpflicht sei allzu teuer. Sie binde „neben Personal zugleich Finanzen, Liegenschaften und Gerät in Milliardenhöhe“, meint der Bundestagsabgeordnete Winfried Nachtwei. Dem widerspricht Generalinspekteur Harald Kujat. Eine Berufsarmee käme keinesfalls billiger, so seine Ansicht, denn nur die Wehrpflicht könne eine genügende Anzahl von Reservisten ausbilden.
Hinter diesem Dissens verbirgt sich ein grundsätzlicher Konflikt: Ist die Landesverteidigung – wie vom Grundgesetz vorgeschrieben – auch weiterhin der Hauptauftrag der Streitkräfte? Dafür werden Reservisten gebraucht. Oder ist das eine Position „wider alle Realitäten“, wie Nachtwei meint, weil der „Primärauftrag“ der Armee inzwischen in der Krisenbewältigung bestehe? Das ist ein Auftrag für Spezialisten, nicht für lustlose Jugendliche.
Nun werden militärpolitische Fragen erfahrungsgemäß nicht von den kleinen, sondern von den großen Parteien entschieden. Und für diese stehen ganz andere Themen im Vordergrund – beispielsweise soziale Überlegungen, die für deren Klientel häufig wahlentscheidend sind. Mit einer Abschaffung der Wehrpflicht wären Standortschließungen und damit zwangsläufig soziale Härten verbunden. Deshalb stehen bislang die Führungsspitzen der Volksparteien von Bundeskanzler Gerhard Schröder und seinem Herausforderer Edmund Stoiber bis hin zu Verteidigungsminister Rudolf Scharping und seinem Vorgänger Volker Rühe offiziell in Treue fest zur Wehrpflicht.
Aber selbst bei den Großen bröckelt die Front. Wolfgang Schäuble, graue Eminenz der Union, und der ehemalige Verteidigungsminister Rupert Scholz haben ein Konzept erarbeitet, das eine Einsatzarmee aus Berufssoldaten und eine Territorialschutz-Komponente mit Wehrpflichtigen vorsieht: ein Schritt hin zu einer Freiwilligenarmee, da die so genannte Krisenintervention gegenüber der Landesverteidigung immer mehr an Bedeutung gewinnt. Landespolitiker der SPD weichen noch weiter vom offiziellen Kurs ihrer Partei ab: Ute Vogt aus Baden-Wüttemberg, der Saarländer Heiko Maas, Christoph Matschie aus Thüringen und Juso-Chef Niels Annen fordern in einem internen Papier: „Schaffen wir die Wehrpflicht ab!“ Die SPD gerate in die Gefahr, das Vertrauen jener zu verlieren, denen sich „der Sinn der Wehrpflicht nicht mehr erschließt“.
Nachwuchspflege …
Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings weniger den Sinn der Wehrpflicht als vielmehr die in diesem Zusammenhang geübte Praxis zu prüfen. Ist die Wehrgerechtigkeit noch gewährleistet? Das Verteidigungsministerium bejaht – wenig überraschend – diese Frage, während die Gegner der Wehrpflicht – ebenso wenig überraschend – dies verneinen. Zwischen 84 und 98 Prozent aller verfügbaren jungenMänner würden eingezogen, behauptet die Hardthöhe. Der FDP-Wehrexperte Günther Nolting erklärt dagegen, nur noch 21,6 Prozent der Männer eines Jahrgangs müssten Wehrdienst leisten. Was letztlich nichts anderes beweist, als dass sich mit Statistik eben alles beweisen lässt.
Für die Bundeswehr, die seit ihrem Bestehen eine Wehrpflichtarmee ist, geht es im Zusammenhang mit der allgemeinen Wehrpflicht noch um ganz andere Fragen. Sie fürchtet um qualifizierten Nachwuchs und verweist darauf, dass fast die Hälfte der Offiziere und Berufssoldaten aus den Reihen von Wehrpflichtigen stammen, die ursprünglich eine andere Zukunft vor Augen hatten. Dieses Argument stößt wiederum auf besonderen Widerhall bei all jenen, die infolge der historischen Erfahrungen der Weimarer Republik fürchten, eine Berufsarmee könne sich zu einem „Staat im Staate“ entwickeln und die deshalb für die Beibehaltung der Wehrpflicht plädieren. Ein unerwartetes Bündnis, auch das.
… und innere Führung
Ohnehin plädieren heute im Gegensatz zu früheren Jahrzehnten gerade manche Befürworter der Wehrpflicht aus einer militärkritischen Position heraus: Sie meinen, dass nur die allgemeine Wehrpflicht das Prinzip der inneren Führung, des „Staatsbürgers in Uniform“, gewährleisten kann, und sie hoffen, dass eine Wehrpflichtarmee das – vielleicht letzte – Bollwerk gegen militärische Aggression darzustellen vermag. Andere sind der Ansicht, dass sich diese Hoffnung spätestens im Kosovo-Krieg als unrealistisch erwiesen hat.
Weder demokratietheoretische Überlegungen noch die Frage nach der Wehrgerechtigkeit können allerdings für sich alleine die allgemeine Wehrpflicht rechtfertigen. Sie sind kein Selbstzweck. „Die Wehrpflicht ist ein so tiefer Eingriff in die individuelle Freiheit des jungen Bürgers, dass ihn der demokratische Rechtsstaat nur fordern darf, wenn es die äußere Sicherheit des Staates wirklich gebietet“, sagte der damalige Bundesprädient Roman Herzog auf der Kommandeurstagung der Bundeswehr 1995.
Die äußere Sicherheit? Gegenwärtig ist die Bundesrepublik von Freunden umgeben. Für die Beibehaltung der Wehrpflicht sind das schlechte Rahmenbedingungen.
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