Auf mythenbesetztem Terrain

Walter Salles’ „Hinter der Sonne“ ist im brasilianischen Nordosten angesiedelt: im Sertão, aus dem das Land seine Legenden bezieht. Das Cinema Novo erschloss den kargen Landstrich vor 40 Jahren fürs Kino, heute entdecken ihn die Filmemacher neu

Der Sertão wird zum Meer, das Meerzum Sertão

von UTE HERMANNS

„Wir sind wie die Ochsen, drehen uns immer im Kreis und kommen doch nicht vom Fleck“, ruft Pacu (Ravi Ramos Lacerda), als sein Bruder Tonho (Rodrigo Santoro) ihn fragt, ob er zum Zirkus in die Stadt gehen möchte. Vergnügen fehlt im Leben der Familie Breves. Nur wenig bringt ihnen ihre Zuckerrohrplantage im Nordosten Brasiliens ein. Zumal seit die Sklaverei abgeschafft wurde und es keine billigen Arbeitskräfte mehr gibt. So müssen die Familienmitglieder die Arbeit auf dem Feld und an der Mühle selbst erledigen.

„Hinter der Sonne“, der neue, auf dem Filmfestival Venedig im vergangenen Jahr mit dem Leoncino d’Oro ausgezeichnete Film des brasilianischen Regisseurs Walter Salles, spielt im Jahr 1910. Im Februar wird der älteste Sohn der Familie, Inácio, ermordet. Schuld daran ist die Blutfehde zwischen den Breves und den Ferreiras, eine Fehde, deren Anfang sich irgendwo in der Familiengeschichte verliert und mit einem Landstück zusammenhängt. Jeder Tote auf der einen fordert einen Toten auf der anderen Seite. Als der Blutfleck auf dem Hemd Inácios sich im Wind gelb zu färben beginnt, fordert daher die Mutter (Rita Assemany) den jüngeren Sohn Tonho auf, den Tod zu rächen. Auch der Vater (José Dumont) insistiert darauf, und Tonho, eher melancholisch als rachgierig, macht sich auf den Weg.

Nachdem er seine Mission erledigt hat, nimmt er, wie der Brauch es will, an der Trauerfeier teil und erbittet danach vom Vater des Opfers, dem Patriarchen der Ferreiras (Everaldo Pontes), eine Schonzeit. Die Frist einer Mondphase wird ihm gewährt. Der blinde Ferreira fragt Tonho nach dessen Alter. Sein Leben sei fortan in zwei Phasen geteilt. Die eine umfasse die 20 Jahre, bis er zum Mörder wurde, die zweite die 30 Tage, die ihm noch bleiben. Wenn er die Liebe nicht kenne, würden die kommenden 30 Tage nicht ausreichen. Tonho kehrt mit einer schwarzen Binde am Arm zu seiner Familie zurück: ein Zeichen, dass er bis zum nächsten Vollmond Schutz genießt.

Walter Salles hat für seinen Film den Roman „Der zerrissene April“ von Ismail Kadaré zur Vorlage gewählt. Das Buch spielt in den albanischen Hochebenen und beschreibt die Tradition der Blutrache, die einem rigiden Verhaltenscodex, dem Kanun, folgt und das Leben der Menschen bestimmt. Zwar existiert der Kanun in Brasilien nicht, wohl aber gab es Blutfehden. Salles studierte außerdem die Tragödien des Aischylos und fand dabei heraus, dass die Blutrache zwischen zwei Familien immer ohne die Einmischung des Staates vollzogen wurde. Mit Sérgio Machado und Karim Aïnouz schrieb er das Drehbuch für eine Inszenierung im Nordosten Bahias, wo es, wie in Minas Gerais oder Pernambuco, das Phänomen der Blutrache gab. Das Drehbuch entfernt sich weit von Kadarés Roman, es ist eingängiger gestaltet als „Der zerrissene April“. Dennoch kommt es der Essenz des Textes nahe und bezeugt so dessen Universalität.

„Hinter der Sonne“ ist wie „Central do Brasil“ das Ergebnis einer Zusammenarbeit mit dem Schweizer Arthur Cohn, einem unabhängigen Filmproduzenten, der schon mehrmals Oscars für seine Filme bekommen hat. Als Koproduktion von Brasilien, Schweiz und Frankreich ist der Film natürlich für den internationalen Markt gemacht. Vielleicht hat hier der Ehrgeiz des Regisseurs seinen Ursprung, möglichst viele Anspielungen auf die brasilianische Filmtradition unterzubringen. Das tut dem Film nicht immer gut.

Keine Frage, die Bilder von Walter Carvalho überzeugen in ihrer Sinnlichkeit, Poetik und Symbolik. Selten wurde eine Verfolgungsjagd animalischer ins Bild gesetzt als in diesem Film: Tonho hetzt den Mörder seines Bruders durch das Dorngestrüpp des Sertão. Er ist dabei weniger Jäger als Gejagter, gefangen im Netz der Äste und in dem des Rachecodex. Wie Carvalhos Kamera das Element Luft durch Auf- und Untersichten in Szene setzt – etwa wenn sie die Zirkusartistin Clara (Flavia Marco Antonio) am Seil zeigt wie einen Engel vor dem Abendhimmel über dem staubigen Boden –, sucht seinesgleichen. Die Abgeschiedenheit des Sertão mit seinen Felsmassiven und Steppenlandschaften wird in vielen Totalen und unterschiedlichen Lichtverhältnissen eingefangen, man sieht Dornengestrüpp in goldener Nachmittagssonne, die einfachen Wohnhäuser mit abblätterndem Putz, die abgeschiedenen Felder, das schlichte Mobiliar der Zimmer mit spärlicher Kerzenbeleuchtung, die auch die Protagonisten in fahles Licht taucht. Räume mit Lehmwänden, ungehobelte Tische, ein Kolonialwarenladen mit spärlichem Warenangebot: All diese kargen Szenen erinnern an Stillleben. Die Stofflichkeit der Dinge wird geradezu fühlbar.

Seit seinem Film „Central do Brasil“, für den er 1998 den Goldenen Bären erhielt, ist Walter Salles nicht müde geworden, die Tradition des brasilianischen Cinema Novo und dessen Exponenten Nelson Pereira dos Santos und Glauber Rocha zu loben. Deshalb spielt auch das Ende von „Central do Brasil“ im Sertão, im Nordosten, und ist der Tradition des Cinema Novo verpflichtet, insofern bewusst bei natürlichem Licht gedreht wurde. Dies wird in „Hinter der Sonne“ beibehalten.

Walter Salles ist nicht der einzige brasilianische Filmemacher, der den Sertão als Schauplatz neu entdeckt. Nachdem Brasilien sich Anfang der 90er-Jahre von dem Kulturkahlschlag des Präsidenten Collor de Mello erholt hatte, zog es mehrere Regisseure in den Sertão, nicht zuletzt weil Romane wie Guimarães Rosas „Grande Sertão“ oder Euclides da Cunhas „Os Sertões“ („Krieg im Sertão“) die Neugier weckten. Der Sertão ist eine Wiege brasilianischer Mythen und Magie, ein Ort von Legenden und blutigen Revolten – man denke etwa an den Aufstand von Canudos, den Euclides da Cunha beschreibt. Eine Stätte auch des sozialen Aufruhrs – verschiedene Bandenführer wie Lampião haben dort gekämpft – und ein Ort religiöser Vielfalt und des Synkretismus. Dem Cinema Novo galt der Sertão als rückständiges Hinterland, in dem die Landarbeiter durch repressive Arbeitsverhältnisse unterjocht wurden, ihre Rechte nicht kannten und sich in die Religion flüchteten. In den neueren Filmen ist der Sertão ein unbekannter Landstrich, seine Landschaft fasziniert, und die dort vorhandenen Volksreligionen und Bänkelsänger werden mit Respekt und Faszination wahrgenommen.

José Araújo filmte „Sertão der Erinnerungen“ und erhielt dafür 1997 den Wolfgang-Staudte-Preis, Bia Lessa inszenierte „Der Erwählte“ von Thomas Mann in „Crêde-Mi“. Das Leben und Wirken des Banditen Lampião steht im Zentrum von „Baile Perfumado“ („Duftender Tanz“) von Lirio Ferreira und Paulo Caldas sowie „Corisco e Dadá“ („Corisco und Dadá“) von Rosemberg Cariri. Anders als den Protagonisten des Cinema Novo geht es diesen Regisseuren nicht mehr darum, auf die Rückständigkeit des Sertão hinzuweisen, die in einer sozialen Revolte beendet werden sollte. Einer Revolte, deren Motor das sozial engagierte Kino hätte sein sollen. Sie sehen sich stattdessen einem Kosmos gegenüber, den sie in seiner Eigenart zu verstehen suchen. Insofern ist es nur logisch, dass auch „Hinter der Sonne“ mit dem archaischen Sujet der Blutrache im mythenbesetzten Gebiet des Sertão angesiedelt ist, denn dort gab es brutale Gemetzel verfeindeter Gruppen, religiöse Fanatismen und eine ausschweifende Imagination, die in Volkssagen und Redewendungen einfloss.

In Glauber Rochas Film „Deus e o Diabo na Terra do Sol“ („Gott und Teufel im Land der Sonne“, 1964) heißt es: „Der Sertão wird zum Meer, das Meer wird zum Sertão.“ Für Rocha war das Meer ein Symbol revolutionärer Utopie. Das arme Landesinnere sollte zu Wohlstand kommen, eine soziale Veränderung war angestrebt. Salles beruft sich auf Rocha: In „Hinter der Sonne“ ist das Meer in erster Linie ein Ort der Träume und Imagination, der Pacu vereinnahmt, insofern sich der Junge, angeregt von seinem Lesebuch, ein Leben am Grunde des Meeres ausmalt: Dort kann er mit der Meerjungfrau aus seinem Buch und allen Menschen leben, weil es Platz für alle gibt und niemand sich um Land streiten muss.

Salles bezieht sich auf das Cinema Novo, indem er die kargen Lebensverhältnisse poetisch nachzeichnet und Bildzitate einfügt – etwa die Weggabelung, an der sich Tonho zweimal entscheiden muss, oder die Zirkusartisten. Die erinnern zudem an den Wanderzirkus aus „Bye, Bye Brasil“ von Carlos Diegues. Auch zieht Salles natürliche Schauplätze vor und arbeitet mit Schauspielern, die bei Nelson Pereira dos Santos und Glauber Rocha mitspielten, etwa mit José Dumont und Othon Bastos. Neu indes ist die ausgefeilte Kinotechnik, mit der „Hinter der Sonne“ dem Sertão begegnet: Den rauen Bildern eines Glauber Rocha stellt Salles eine perfekte Komposition entgegen. Das der Logik der Blutrache innewohnende Delirium ist darin aufgehoben.

„Hinter der Sonne“. Regie: Walter Salles. Mit José Dumont, Rodrigo Santoro, Rita Assemany u. a., Brasilien/ Schweiz/Frankreich 2001, 105 Min