DEUTSCHLAND UND FRANKREICH SIND NICHT MEHR DER MOTOR EUROPAS: Die EU braucht eine Regierung
Da hat alles Sauerkrautessen nicht geholfen. 16 Monate nach dem Desaster des Gipfels von Nizza und nach ungezählten deutsch-französischen Gasthausgipfeln haben Gerhard Schröder und Lionel Jospin mit ihren jüngsten Reden zur Zukunft der EU gezeigt: Der deutsch-französische Motor Europas ist zum Stillstand gekommen. Ja, mehr noch: Obwohl in beiden Staaten nun seit Jahren Sozialdemokraten regieren, gibt es kein gemeinsames linkes Projekt für die Zukunft der EU.
Das hat einen Grund: Die Beschwörung der deutsch-französischen Gemeinsamkeiten wird umso lauter, je vager die tatsächlichen gemeinsamen Ziele werden. Das beginnt bei der Finanzierung der EU-Agrarpolitik, die Berlin renationalisieren möchte; führt über die Bewertung der Globalisierung, die Schröder sehr viel positiver sieht als Jospin; und endet beim grundlegenden Thema aller Europadebatten: ob die gemeinsamen Institutionen oder die Zusammenarbeit der Regierungen gestärkt werden sollte. Obwohl Schröder, denkt man an seine jüngste Kritik an Brüssel, sicher kein Integrationist ist, übertrifft er die Franzosen mit ihrer ständigen Betonung der Grande Nation hier bei weitem. Dort jedoch, wo sich Deutsche und Franzosen im letzten Jahr einig waren – etwa bei der Aufweichung des Stabilitätspakts wegen eines blauen Briefes für Berlin – hat das zu einer Schwächung der EU geführt.
Der Totalschaden des deutsch-französischen Motors ist nicht überraschend, sondern Ergebnis der europäischen Normalisierung fast 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Was sich auch an Alltäglichkeiten zeigt. Die Deutschen sind weniger frankophil, die Exklusivität von deutsch-französischen Städtepartnerschaften gehört angesichts von polnischen oder italienischen Partnern der Vergangenheit an, und in Berlin gibt es eben keine Provence-, sondern eine Toskana-Fraktion.
Für die EU hat der Ausfall ihres Motors Folgen, die seit Nizza allen klar sein müssten. Wenn die beiden größten Mitglieder kompromissunfähig sind, wird es auch der Rest sein. Wenn aber der Rat europäischer Regierungschefs als wichtigstes Entscheidungsgremium ausfällt, muss die EU-Kommission zur europäischen Regierung werden. Und für deren Stärkung hat sich letztendlich ja auch Schröder gestern ausgesprochen. SABINE HERRE
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