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Große Pleitewelle, kleine Tragödien

Vor drei Jahren wurde das neue Insolvenzrecht eingeführt. Seitdem hat jede zweite Pleitefirma Chance auf Überleben

HAMBURG taz ■ Früher brachte ein Konkursantrag nur Schimpf und Schande über den Firmeninhaber. Das folgende Konkursverfahren diente allein der Befriedigung der Gläubiger, vor allem des Fiskus und der kreditgebenden Banken. An ein Überleben des angeschlagenen Unternehmens wurde meistens kein Gedanke verschwendet. Dies wollte die rot-grüne Bundesregierung mit der neuen Insolvenzordnung 1999 ändern. Im Mittelpunkt des Insolvenzverfahrens sollte nun das Überleben der Pleitefirmen stehen.

Die spektakulären Insolvenzen von Leo Kirch, der Schmidt-Bank, des Flugzeugbauers Dornier-Fairchild, des Schreibwarenkonzerns Herlitz und des Holzmann-Konzerns bilden lediglich die Vorhut von tausenden Pleiten. Die Steigungsrate ist hoch. Im vergangenen Jahr stieg die Zahl der Unternehmensinsolvenzen um über 14 Prozent auf 32.278 Pleiten an.

Damit wurde eine negative Entwicklung auf die Spitze getrieben, die trotz konjunkturellem Auf und Ab seit langem einen Trend zum Schlechten aufweist. Waren Mitte der Neunzigerjahre „nur“ 20.000 Pleiten jährlich zu beklagen, nahmen seither die Pleiten trotz zeitweilig boomender Konjunktur weiter zu. Damit nicht genug, trifft es auch immer häufiger frühere Branchenkracher: „Im Jahr 2001 mussten erheblich mehr größere und ältere Unternehmen als je zuvor den Gang zum Insolvenzgericht antreten“, beklagt das Statistische Bundesamt in Wiesbaden.

Dass wir es nicht allein mit hausgemachten Problemen zu tun haben, zeigt ein Blick über die Landesgrenze: Auch in den anderen Ländern der Europäischen Union, in Norwegen und in der Schweiz steigt die Zahl der Pleiten seit 1999 wieder an, rund 200.000 Insolvenzen wurden allein im zurückliegenden Jahr gezählt. Und selbst im Musterland USA, Vorbild aller Strukturveränderer, hat die neoliberale Offensive die Pleitewelle aufgehalten: Im vergangenen Jahr wuchs die Zahl der Insolvenzen fast genauso schnell wie im angeblich so verkrusteten Deutschland, nämlich um 13 Prozent auf rund 400.000, rasant an.

Das Überleben vieler Firmen retten soll die neue Insolvenzordnung von 1999. Wurde dieses Ziel erreicht? „Ja“, sagt eine Sprecherin vom Informationsdienst Creditreform, die Reform habe sich „bewährt“. Auch der Kreditversicherer Hermes sieht die Insolvenzpraxis „auf einem guten Weg“. Wurden früher 70 Prozent aller Insolvenzanträge mangels Masse abgelehnt und die Firmen sofort zerschlagen, sind es heute nur noch 50 Prozent, jedes zweite Unternehmen darf also heute auf ein Überleben hoffen.

Trotzdem hakt es noch in der Praxis. Noch nicht richtig durchgesetzt habe sich die Idee, „möglichst früh“ eine Insolvenz zu beantragen, um damit die Überlebenschancen zu verbessern, heißt es bei Hermes. Stattdessen wird immer noch zu oft der Arzt erst gerufen, wenn bereits der Leichenbestatter gefragt wäre – siehe Holzmann. Gerade für Mittelständler sei der zu erstellende Insolvenzplan viel zu bürokratisch, beklagt Creditreform. Ansonsten steht die deutsche Mentalität oft im Wege: Eine Insolvenz gilt hierzulande immer noch als „persönlicher Makel“ und nicht, wie in den USA, als Ausdruck eines wagemutigen Unternehmers.

Im Januar 1999 war die neue Insolvenzordnung in Kraft getreten, im Dezember vorigen Jahres wurde sie das erste Mal reformiert – und eine Bund-Länder-Kommission arbeitet bereits am nächsten Reformschritt. Weitere bürokratische Hürden sollen geschleift und sanierungsfähige Firmenteile besser vor gierigen Gläubigern geschützt werden, damit sie überleben können.

Ein Insolvenzverfahren ist daher ein Privileg – für wenige Firmen. Versteckt hinter den großen Pleiten finden wir die kleineren Tragödien, rund 140.000 Betriebe wurden allein im vergangenen Jahr aufgegeben, insgesamt 645.161 Gewerbetreibende meldeten ihre Firma oder ihr Geschäft ab. Leise Servus sagten ebenso der Bäcker „an der Ecke“ wie der schmuddelige Videoshop im Frankfurter Bahnhofsviertel, der freiberufliche Versicherungsvertreter in Rostock, die Softwareschmiede in Pirna oder der Maschinenbauer im Schwarzwald. Bis zum Sommer rechnen viele Experten mit einem weiteren Pleitenrekord.

HERMANNUS PFEIFFER

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