piwik no script img

tellerrandEs kann ziemlich laut werden, wenn alle versammelt seufzen: „Ach, diese Ruhe!“

Das Gasthaus Boddensee

Der Boddensee hat mit dem Bodden oder der See nichts zu tun. Er liegt in Birkenwerder, am Stadtrand Berlins. Ein richtiger See ist er auch nicht. Eher ein von Sumpf umgebener Tümpel, von Weltrekordlern in schätzungsweise 49 Sekunden durchkrault. Zur Vervollkommnung der Idylle mit See hat man ein Ruderboot an die Leine gelegt und aus dem sozialistischen Ferienheim das Gasthaus Boddensee mit „Seeterrasse und Biergarten“ gemacht. Das soll Touristen anziehen, und während der Fremdling den schmalen Weg entlangschreitet, verfolgen ihn die stummen Blicke unzähliger Gartenzwerge aus den kleinen Häuschen im Gebüsch.

Auch der Wirt hat den Gast erspäht und nähert sich mit Speisekarte und Sitzkissen – für den Empfindsamen. Es ist viertel vor zwölf, kein Mensch sitzt auf der Landzunge, die sich mit bayrischen Tischen und Bänken aus halbierten Baumstämmen weit in den See hineinwagt. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, geräuschlos zeichnet eine Ente ein perfektes Dreieck in den Spiegel des Sees. Fröhlich schlägt der Gast die Speisekarte auf und liest, dass ein Großteil der Produkte aus der Region kommt.

Die Region ist groß, sie umfasst sozusagen den gesamten alten Osten. Es gibt Wernersgrüner und „Schwarze Rose – die Pilslegende aus Thüringen“. Das Wild kommt aus der Schorfheide und der Fisch aus Peitz im Spreewald. Auf dem „Fischteller Boddensee“ liegen Rotbarsch, Lachs und Zander. Natürlich gibt es Eisbein hier am Stadtrand, „traditionell mit Erbspürree, Sauerkraut und Kartoffeln für 8,50 Euro“. Und für die Kleinen „Pommes rot und/oder weiß für 2,40 Euro“. Der Gast liest den kurzen Satz dreimal, dann versteht er. Am rätselhaftesten aber scheint ihm noch der „Fischteller Boddensee“ mit Rotbarsch, Lachs und Zander.

„Sagen Sie, kommt der Fisch nun aus dem Boddensee oder aus Peitz im Spreewald?“, fragt der Gast. Der Wirt lacht. Er ist ein netter Wirt, er kommt aus dem Osten. Der Westberliner, von Natur aus etwas arrogant und bösartig, wird ganz verlegen, bestellt schnell das Wildschwein mit Preiselbeeren, Kartoffelknödeln und natürlich Apfelrotkraut, und atmet tief durch. „Ach, diese Ruhe!“

Die Luft ist gut, ruhig liegt der See im Wald, und das Wild aus der fernen Schorfheide schmeckt dem Fremdling am Boddensee. Da plötzlich kommen aus allen Himmelsrichtungen die Menschen, mit Dackeln, Dauerwellen, Drachengesichtern und Honeckerbrillen. Es ist zwölf Uhr, im Osten geht man pünktlich zu Tisch. Vorbei ist es mit der Idylle, an allen Tischen erzählen sie, wie schön es hier sei und wie gut das Essen schmecke. Und dann seufzen sie: „Ach, diese Ruhe!“ Wenige Minuten später ist das Eisbein ausverkauft, die Schnitzel sind vergriffen, die Stimmung ist bombig, und laut schallt das Gelächter über den See. HANS W. KORFMANN

Gasthaus Boddensee, Brieseallee 20, Birkenwerder, Tel. (0 33 03) 40 35 42, Mi.–So. 12–22 Uhr

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen