: Schrotflinte statt Bauvisionen
■ Stadtbilder von heute in der Städtischen Galerie Delmenhorst: Erschreckende städtische Schönheiten
Als 1976 das New Yorker Institut for Architecture and Urban Recources für eine Ausstellung mit dem Titel „Idea as Model“ Künstler und Architekten nach ihren Bauvisionen befragte, fiel einer aus der Rolle: Gordon Matta-Clark, ein gelernter Architekt, der als Künstler ein Konzept der „Anarchitecture“ verfolgte, zeigte statt Visionen Fotos aus der Realität: Abbildungen vom sozialen Wohnungsbau, deren Fenster von den Bewohnern eingeschlagen worden waren. Und, um diese Wirkung zu steigern, lieh sich Matta-Clark eine Schrotflinte und zerstörte am Abend vor der Eröffnung sämtliche Fenster des Ausstellungsraums. Zur Vernissage wurden prompt wieder alle Fenster eingesetzt – aber Matta-Clarks Beitrag war verschwunden.
Diese Episode wirft Licht auf die stets problematische Beziehung zwischen Architekten und Künstlern. Auch in der Ausstellung „Die Stadt. Stadtbilder in Zeiten der Transformationsprozesse“, die am Sonntag in der Städtischen Galerie Delmenhorst eröffnet wird, ist diese schwierige Beziehung ein nicht zu übersehendes Unterthema.
Nicht nur an den Beiträgen des 1978 jung verstorbenen Matta-Clarks, der inzwischen als Anreger des architektonischen Dekonstruktivismus gilt, wird das deutlich. Auch Thomas Huber beschäftigt sich in seinen gemalten Phantasieprojekten mit den Omnipotenzträumen der Architekten. Und Anne und Patrick Poirier verleihen in ihrer Modellrekonstruktion „Danger Zone“ dem technizistischen Aufbruchgestus moderner Architektur einen apokalyptischen Zug. Ania Corcilius schließlich konfrontiert die hehren Ansprüche der Meister des architektonischen Moderne, Gropius, Le Corbusier, Costa & Co, mit der Lebenswelt der Bewohner ihrer Stadtvisionen.
Das eigentliche Thema der Ausstellung liegt zweifellos in der künstlerischen Verarbeitung von Ambivalenz, der zentralen Erfahrung des Städtischen. In den gezeigten Beiträgen zeichnen sich zwei Strategien ab: Repolitisierung und Ästhetisierung.
Vor allem bei Vertretern der jüngeren Generation wird ein Ausbruch aus der selbstreferenziellen Kunstsphäre versucht. Kunst soll wieder unmittelbar ins Leben eingreifen. Nur wird dieser Anspruch heute weniger pathetisch als noch von Matta-Clark vorgetragen. Bestes Beispiel dafür: die Arbeit „Phantomclubs“ von Nina Fischer und Maroan el Sani, die verdeutlicht, dass das kommunikative Potenzial eines Ortes nicht unbedingt auf dem ersten Blick erkennbar sein muss.
Wenn es sich bei der Ausstellung um einen repräsentativen Querschnitt heutiger Auseinandersetzungen mit Stadt handeln sollte, muss man konstatieren: Es überwiegt die Haltung, die Widersprüche des Städtischen als ein ästhetisches Faszinosum vorzuführen. Das gilt insbesondere für die Fotokünstler Balthasar Burkhard, Stéphane Couturier, Andreas Gursky, Stephen Shore und Martin Zeller.
Schon der Jugendstilarchitekt August Endell hatte 1908 „Die Schönheit der großen Stadt“ gepriesen, Le Corbusier war fasziniert von der ungewollten Ästhetik der technischen Zweckbauten, Robert Venturi, Vater der architektonischen Postmoderne, lobte in den sechziger Jahren die Widersprüchlichkeit der Trivialarchitektur und Rem Koolhaas, der wohl einflussreichste Architekt der Gegenwart, spricht von der „erschreckenden Schönheit“ unserer verstädterten Umwelt. Das gehört alles zur modernen Erfahrung der Stadt: Es kommt nur darauf an, wie wir sie sehen wollen. Eberhard Syring
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