tellerrand: Aristokratische Feldfrüchte im Publique
1.1.1 Des Deutschen liebster Gemüsestängel
1.1.2 Kaum tauchen die ersten Spitzen der begehrten Feldfrucht aus den umliegenden Sandflächen, schreiben die Berliner Köche das ansonsten bedeutungslose Städtchen Beelitz fett auf ihre Speisetafeln. Überall, in den feinen Restaurants und in der Eckkneipe „Bei Muttern“, gibt es plötzlich Spargel. Auch im „Publique“ – im Schatten der rostigen Yorckbrücken mit ihren stillgelegten Gleisen – serviert man im Mai die aristokratisch blasse Feldfrucht. Und ähnlich wie der Standort erregt auch die Speisekarte keine große Aufmerksamkeit: zwei übersichtliche Blätter in leicht verständlicher Sprache, ohne Schnörkel und Überladenheiten, ohne Sensationen. Es gibt Filet, Geschnetzeltes, Poularde, Lamm. Und Spargel. Ganz traditionell – mit Schinken und mit Butter oder Sauce Hollandaise.
1.1.3 Skeptisch studiert ein Herr mit goldener Brille und Füllfederhalter im Jackett die Karte. Seufzend bestellt er. Die Erwartungen an diesen Tag haben einen Tiefpunkt erreicht. Doch 15 Minuten später geschieht das Wunder: Hoch und dampfend türmen sich die dicken Stängel Beelitzer Spargels in der Mitte des Tellers vor ihm auf, rings um den Hügel schließt sich der Kreis aus gelb glänzenden Kartoffeln, bestreut mit frühlingsgrünem Schnittlauch, rosaroten Melonenstückchen und kleinen Schinkenröllchen. Nett sieht das aus, doch wie oft trügt der Schein, dekoriert und drapiert man, um dem Auge zu schmeicheln und den Gaumen zu überlisten.
1.1.4 Der Mann mit der Goldbrille zieht die Stirn in Falten. Skeptisch sticht er die Gabel in den Spargel – des Deutschen liebsten Gemüsestängel. Und plötzlich beginnt er zu lächeln. Über sein ganzes großes Gesicht breitet sich ein wunderbares, friedliches Lächeln aus: Nicht hart, sondern zart ist das frivole Gemüse, aus der butterblumengelben Kartoffel entsteigen Kindheitserinnerungen, und der orangefarbene Schinken vermählt sich geradezu glücklich mit der purpurroten Melone. Eine halbe Stunde sah man ihn lächeln und genüsslich am Spargel lutschen. Dann begoss er das Festmahl mit einem duftenden Birnenschnaps, gab der freundlichen Kellnerin ein ordentliches Trinkgeld und sprach:
1.1.5 „Wissen Sie, es ist nicht die Frage, ob man den Hirschbraten ‚mit‘ Preiselbeeren reicht oder ‚an‘ Preiselbeermousse anrichtet. Der kulinarische Weizen trennt sich von der gastronomischen Spreu nicht durch exotische Speisetitel wie ‚Canard à l’Orange‘ oder ‚Poussin an Birnencreme‘. Sprachliche Kreationen können der Kartoffel kein Aroma verleihen und erst recht nicht der plumpe Austausch der so hilfsbereiten Präposition „mit“ durch dieses moderne „an“. Verstehen Sie?“
1.1.6 Die Kellnerin verstand den Herrn nicht, doch sie lächelte und antwortete trotzdem: „Nicht ganz, aber Hauptsache, es hat geschmeckt!“ – „Genau, das habe ich doch gemeint!“, lachte der Gast. „Dann sagen Sie es auch!“, sagte die Kellnerin. 1.1.7; 1.1.8 …
HANS W. KORFMANN
Publique, Yorckstraße 62, Kreuzberg, Mo.–Sa. ab 17 Uhr, Tel. 7 86 94 69
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen