: Kein politischer Farbwechsel
Was tun gegen die Rechtspopulisten (4)? Linke oder rechte Mehrheiten in der EU – hinter dieser Frage steht kein Interesse am Politischen, sondern die Leere Europas
Das Spiel kann demnächst wieder beginnen. Sollte der Volkswille der Franzosen, der sich soeben von den Rechtsextremen zur Wiederwahl des abgeschabten Chirac zwingen ließ, ihm im Juni auch eine Parlamentsmehrheit verschaffen, könnten sich die Leitartikler an ihrem altbekannten Thema hochranken: Gerät mit ihren Nationen die Europäische Union nunmehr unter konservative Leitung? Geht Europa gar nach rechts? Immerhin drei der fünf großen Länder lassen sich dann konservativ oder rechtspopulistisch regieren: Spanien, Italien, Frankreich. Dazu Österreich, die Niederlande et tutti quanti. Geriete Gerhard Schröder durch einen dummen Unfall auch noch unter die Räder, bliebe nur noch einer außerhalb einer schwarzen Schar, der strahlende Brite.
Was könnte dieses Gruppenbild bedeuten? Wenig. Es wird vor allem von der Langeweile des intellektuell unterbeschäftigten Journalismus montiert, der seinerseits die politische Leere Europas spiegelt. Man kann mit dieser Frage kaum etwas anfangen, es steht ohnehin keine Interesse am Politischen dahinter. Sie lautet alle paar Jahre anders, läuft aber immer wieder aufs Gleiche hinaus. Erinnern wir uns.
Im Herbst vor vier Jahren war man linksliberal euphorisch: Nach Italien, Großbritannien, Frankreich nun auch Deutschland sozialdemokratisch geführt. Dazu mehr als ein Halbdutzend der kleinen Mitglieder. Ralf Dahrendorfs Feststellung vom Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts schien widerlegt. Links-rosaroter Reformwille werde jetzt entfaltet.
Noch zwei Jahre zuvor hatte man’s wiederum anders gelesen: Die Briten, die Deutschen, die Italiener, nun auch die Spanier und vor allem die Franzosen unter dem frisch gewählten Chirac lagen tief in schwarzer Nacht. Frankreich ließ sich geradezu als Chiraquie bezeichnen: vom Präsidenten über Regierung und Parlament bis zu den Regional- und Departementsräten alles fest in neogaullistischer Hand. Kurz darauf, eben 1998, konnte auch dieser Chronist von der Implosion und dem Zerfall der Konservativen in Europa sprechen.
Europa als Ganzes war in diesen sieben Jahren niemals von alternierenden Ideologien und gar Machtorganisationen der Rechten oder der Linken dominiert. Regiert und ein klein wenig mit Anpassungsreformen neu rangiert wurde, wie schon in den Jahrzehnten davor, fast überall auf gleiche Weise. Dafür sorgte schon die einheitliche politische Leitlinie: die seit 1985 unvermeidbare Errichtung der Gemeinschaftswährung samt Stabilitäts- und Wachstumspakt. Davon wird Chirac II. ebenso eng eingezäunt, wie es Schröder II. oder Stoiber erleben werden. Ebenso wenig wie die beiden ist das abenteuerlich korrupte Berlusconi-Italien zur Sozialreform fähig, ob vorwärts oder rückwärts gewandt. Nicht anders geht es den Niederländern, den Iren, den Spaniern. Und wenn Tony Blair heute den alten Labour-Geist wieder aufmöbelt und mit Hilfe kräftiger Staatsschulden die öffentlichen Dienste modernisieren will, so kann er das nur wagen, weil Großbritannien noch nicht der Euro-Zone angehört.
Es gibt einstweilen in Europa nirgends einen Politikwechsel. In der überall gleichen politischen Farblosigkeit kann man nur das Personal auswechseln: Abgerackerte, Erschöpfte und allzu Korrupte gegen Leute, die noch unverbraucht erscheinen und für ein oder zwei Wahlperioden den Karren ziehen können. Eine Belebung durch eigene Ideen verlangt ihnen das blasierte Wahlvolk schon lange nicht mehr ab.
Kompetent sollen sie wenigstens wirken, die Wählbaren, Selbstüberzeugung und umwerfende Gewissheit sollen sie ausstrahlen, sollen auch das Ego-Doping beherrschen – wie es eben auch jedem kleinen Massen-Individualisten abverlangt wird. Chirac und Schröder sind da die richtigen Leute, der Typ des redlich ackernden und zurückhaltenden Protestanten Jospin wird nicht verlangt. Sicherlich gibt es in den politischen Parteiapparaten noch einige Bestände von Parteiinstinkten mit blassen ideologischen Erinnerungen. Aber meist ist die Parteilichkeit, ist die Parteitreue auf den Konkurrenzbetrieb beschränkt: Wir gegen die, die gegen uns.
Darauf beruht nach dem Erlöschen jeder politischen Leidenschaft in Europa auch das Hauptinteresse der Öffentlichkeiten und mit ihnen das Beschäftigungsfeld des politischen Journalismus. Die meisten Journalisten, die für die Politik eingeteilt sind, befassen sich zu vier Fünftel ihrer Arbeit mit dem bloßen Betrieb, den Stars und ihren Untergängen und dem fortwährenden Verschieben von mediengeeigneten Positionen und Kräftespielen: Wer wann mit wem? Politische Analysen, wie sie einst das Rückgrat der großen Zeitungen bildeten, kann man heute nur noch von wenigen Dutzend erfahrenen Journalisten verlangen.
In dieser gepflegten Fadheit wird dann zu gegebener Zeit das Phantasma des politischen Großtrends, der Rechts-links-Wechsel, aufgeschäumt. Das Leserpublikum, auch das etwas aufgeklärtere, kann damit nichts anfangen. Denn an den ökonomischen und den sozialen Grundbedingungen und am Gerüst der Institutionen ändert der Farbwechsel an der Oberfläche des ironischerweise noch so genannten Parteienstaats nichts. Da sich zudem Parteien, Regierungen und Wählervolk für Europa nicht in emotionale Unkosten stürzen können und wollen, bleibt der Farbwechsel eine Sache des gehobenen politischen Feuilletons.
Dass die Frage danach so blutleer wirkt, sollte freilich ein Skandal sein. In diesem Europa, dessen Nationen sämtlich von einem brutal chaotischen Weltmarkt gebeutelt werden und die wachsende Kluft zwischen den internationalisierten Machtträgern und den Massen hinnehmen müssen, ist es nicht mehr möglich, die großen Grundkonflikte in eine politische Form zu bringen. Wahrgenommen und empfunden wurde das in den einzelnen Nationen schon seit drei Jahrzehnten. Im eigenen Land konnte man darüber immerhin noch klagen und anklagen, vor allem die Parteien. Daran machte sich dann auch die ziemlich dünne Erfindung der Politikverdrossenheit fest. Ebenfalls nur mageres Futter für die Leitartikler. Nun ist, spätestens mit der Einführung der Gemeinschaftswährung, auch dies überflüssig geworden. Wenn alle die Entpolitisierung als gemeinsames europäisches Schicksal wahrnehmen, kann man sich darüber national nicht mehr im Ernst aufregen. Deswegen war auch die Erschütterung der Franzosen über Le Pen nur ein pawlowscher Reflex aus vergangener republikanisch-demokratischer Zeit. Le Pens Auftritt wird insofern auch folgenlos bleiben. Schon acht Tage nach dem „Sieg“ der Republik machte die politische Klasse im alten Stil und mit der alten Betonsprache weiter.
Es gibt, das ist die bittere Wahrheit, heute kein soziales und kein ideologisches Reizmittel, das die Parteiendemokratie noch einmal zum Leben erwecken könnte. Die Mitte, von allen zugleich besetzt, bleibt farblos.
CLAUS KOCH
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