KULTUSMINISTERIN SCHAVAN WIRBT FÜR ERZREAKTIONÄRE BILDUNGSPOLITIK: Pädagogik für Unberührbare
Gestern überreichte Baden-Württembergs Kultusministerin der Nation ihre Visitenkarte: Gestatten, Annette Schavan, demnächst Bundesbildungsministerin. Rhetorisch eine Dame von Welt, punktete sie mit profundem Wissen. Vor allem aber zeigte Schavan Krallen als politische Leitwölfin der Rechten – indem sie den Bundeskanzler mit seinem eigenen Motto bezwang: „Die“ oder „wir“.
Schavans Rede vor dem Bundestag war bewusst polarisierend: Entweder wollt ihr die rot-grünen Kuschelpädagogen oder uns, die leistungsorientierten Elitebildner der Union. Genüsslich knüpfte sich die Kultusministerin den Kanzler vor: Unter seiner Führung habe Niedersachsen bei den Schulen gekürzt, Schröder-Land stehe beim Berufsschulranking auf dem letzten Platz, und der Kanzler selbst habe dem Beruf des Pädagogen mit seinem berühmten „Lehrer sind faule Säcke“-Spruch den größtmöglichen Schaden zugefügt. Die rechte Hälfte des Bundestages johlte. Der Kanzler schwieg, eisig lächelnd. Gestatten, das war die Schokoladenseite von Annette Schavan.
Auf ihrer Kehrseite ist die charmante Person leider erzreaktionär. Ihr Programm heißt „Zurück in die Fünfziger“, ihr Bildungsideal stammt aus dem vorigen Jahrhundert: Förderung von Benachteiligten und von Hochbegabten in verschiedenen Schulen. Zum Beispiel in den famosen Sonderschulen, von denen es in Baden-Würtemberg sage und schreibe fünf verschiedene Formen gibt. Das zeigt, dass es für Annette Schavan im Kern nur zwei Sorten Schüler gibt: begabte und unbegabte.
Wer sich einmal mit den Lehrern von Schavans „Wir halten euch dumm“-Schulen unterhält, wird erfahren, in welchem Ausmaß Chancenlosigkeit und Ausgrenzung dort kultiviert werden. Trotzdem präsentiert die zuständige Bildungsministerin dieses schulische Apartheidsystem voller Stolz. Das war der Skandal an Schavans Rede: Deutsche Schulen sind unschlagbare Weltmeister der sozialen Selektion. Sie produzieren 10 Prozent funktionale Analphabeten – und der halbe Bundestag jubelt, wenn weiter offen eine Pädagogik für Unberührbare gerühmt wird. CHRISTIAN FÜLLER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen