: „Wir feiern trotzdem“
Samba, Schlager, Türkisch-Pop: Das WM-Halbfinale zwischen der Türkei und Brasilien auf dem Fischmarkt und dem Spielbudenplatz
von GERNOT KNÖDLER
Gestern gab‘s nur den kleinen Autokorso. Den für eine Mannschaft, die unerwartet ins Halbfinale vorgestoßen ist und sich glorreich den überragend spielenden Brasilianern geschlagen geben musste. Die türkischen Fans auf dem Spielbudenplatz zeigten sich traurig, aber gefasst. Viele konnten sich bereits eine Viertelstunde nach der Niederlage aufs Spiel um den dritten Platz am Sonnabend gegen Südkorea freuen. „Wir haben mit Herz gespielt“, kommentierte Yeniz Yildirim. „Die ganze Welt hat der Türkei zugeschaut“, fügte das Mädchen mit Jeans und türkischer Fahne stolz hinzu.
Vor dem Spiel ist die Stimmung unter den Fans bestens. Auf dem schwach besuchten Fischmarkt schminkt sich, wer noch nicht rot-weiß bemalt war, Stern und Halbmond ins Gesicht. Mädels in rot-weiß lassen zu Samba und türkischem Pop die Hüften kreisen. Dass brasilianische Samba-Tänzerinnen ausgerechnet auftreten, als auf der Videowand die türkische Nationalhymne gesungen wird, ruft Kopfschütteln hervor. Ein paar Fans versuchen dagegen anzusingen – so vergeblich, wie der folgende Sturm ihrer Mannschaft aufs brasilianische Tor.
Doch das Spiel lässt viel offen, und mit der Hoffnung auf das Endspiel bejubeln die Fans der Türkei jede halbwegs gelungene Aktion ihrer Mannschaft, ob Rettungsgrätsche oder Torschuss. Drei Mädchen kommentieren unbeschwert purzelnde Brasilianer: „Alles Schauspielerei, kein Fußball!“ Zur Pause schlagert Peter Sebastian „Ich komm‘ zurück nach Istanbul“. Ein Blick in den VIP-Bereich: Hamburgs Ersatz-Ausländerbeauftragte Ayșe Schnieber-Jastram fehlt.
Der Spielbudenplatz ist vor Anpfiff der zweiten Halbzeit deutlich voller. 4000 Menschen will die Polizei gezählt haben. Im vorderen Drittel ein Meer aus rot-weißen Fahnen. Der Moderator spricht türkisch und legt türkischen Pop auf. Serien von Schreckschüssen knallen, Leuchtkugeln brennen durch die Luft. Auch hier der Duft von Bratwürsten und ein wenig Gras.
Dann das 0:1 durch Ronaldo. Die Stimmung kippt. Während die Zeit verrinnt, reagieren die Fans der Türkei zunehmend verärgert auf Fehler der eigenen Mannschaft. Die Stirnen der Männer legen sich in Falten. Ab und zu brandet von der Häuserzeile her Jubel auf, mit dem sich die Fans Mut machen. Auch bei der Einwechslung von Ilhan Mansiz, der das Golden Goal gegen Japan schoss. Doch es nützt nichts. Die Türkei verpasst den Einzug ins WM-Finale. „Vielleicht ist es gut für St. Pauli“, orakelt ein Nachbar, „dass wir nicht gegen die Deutschen im Finale spielen.“
Gesenkten Hauptes, mit finsterer Miene oder Tränen in den Augen ziehen die meisten Männer vom Platz. Am schnellsten fangen sich die Mädchen. Als ein Grüppchen Brasilien-Fans zum Fototermin versammelt wird, springt Yeniz Yildirim mit zwei türkischen Fahnen herbei. „Wir feiern trotzdem“, kündigt sie an.
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