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Idyll am Wörthersee

Päpstin Ingeborg und die Ökonomie der Mittel: In Klagenfurt schwingt der angeschlagene Literaturbetrieb sich in diesem Jahr zu neuem Selbstbewusstsein auf. Passt schon, hier ist die Buchwelt noch in Ordnung. Den Bachmann-Preis bekam Peter Glaser

„Das Thema der Literatur“, erklärt ein Juror, „ist die leere Mitte“Es geht gar nicht darum, Trends zu erkennen oder gar zu verkaufen

von KOLJA MENSING

Sonntag. 11.21 Uhr. Der Ingeborg-Bachmann-Preis geht an Peter Glaser. Und wirklich beginnen in diesem Moment in ganz Klagenfurt die Glocken zu läuten.

Mittwoch. Ernst muss es einem um die Literatur sein. Das weiß auch der Mann mit der hellen Angelweste, der in Berlin am Morgen den Zug in Richtung Süden besteigt und zuerst eine Dose Schultheiss und dann ein Taschenbuch hervorholt: „Päpstin Johanna“, offenbar ein historischer Roman. Der Mann ist schon etwas älter, darüber kann auch sein buntes Hemd nicht hinwegtäuschen. Während seine Frau in der Bild-Zeitung blättert, vertieft er sich in das abenteuerliche Leben Johannas. Manchmal unterbricht er die Lektüre. Dann schaut er versonnen aus dem Fenster, um die Nachwirkung des Gelesenen zu genießen. Zuletzt verpackt der Mann den Roman sorgfältig in einen offenbar eigens dafür mitgenommenen Gefrierbeutel, um den Umschlag nicht zu beschädigen. In Saalfeld verlässt er gemeinsam mit seiner Frau den Zug.

Er hätte nach Klagenfurt fahren sollen. Dort nämlich nimmt man es ebenfalls sehr ernst mit der Literatur. Abends, bei der Eröffnung der „26. Tage der deutschsprachigen Literatur“, erinnert Jury-Sprecher Robert Schindel die anwesenden Literaturkritiker erst einmal daran, dass Klagenfurt kein Event sei. Hier dürfe man nicht auf Showeinlagen hoffen, sagt er, und weil er weiß, dass in so einem Moment alle an den historischen Auftritt von Rainald Goetz denken, fügt er hinzu: „Diese Zeiten sind vorbei.“ Während sich im Garten des ORF-Landesstudios Kärnten die Journalisten und Autoren im Licht der Dämmerung zur großen Betriebsfamilie vereinigen, beginnt das System Klagenfurt sich zu schließen.

Donnerstag. In Klagenfurt also geht es um Literatur. „Außerliterarische Mittel“, da ist die Jury sich weitgehend einig, gehören nicht in die Diskussionen. Hier hat man sich an den Text zu halten, und der Text ist nur das, was auf dem Papier steht. Diese ehrbare Einstellung führt dazu, dass die Jury immer wieder die gleichen Formulierungen benutzt: Gerne wird die „Ökonomie der Mittel“ gelobt und sprachliche „Überinstrumentierung“ verworfen, manch einer der Juroren entdeckt eine „tiefe Traurigkeit“ im Vorgetragenen, und während die eine Preisrichterin eine Erzählung „zu harmlos“ findet und lieber das „Aufsammeln von Sprachschutt gesehen hätte“, gesteht eine Kollegin trotz „stilistischer Mängel“ zu, dass „Erwartungshaltungen unterlaufen werden“. Passt schon, wie man hier in Österreich sagt.

Hervorragend passt es zu den Texten, die die Jury in diesem Jahr ausgewählt hat: größtenteils schwer zugängliche Annäherungen an das Sterben, die Geburt und das Geworfensein, shot-on-location in Krankenhäusern, Krematorien und Küchentischen. Über Leben und Tod lässt sich trefflich schreiben, streiten kann man darüber schlecht. So schraubt die Jury munter mit ihrem Satz literaturkritischer Universalschlüssel an den Texten herum und findet immer wieder genau das, was sie finden will – das Nichts. In Klagenfurt ist selbst das noch etwas: „Das Thema der zeitgenössischen Literatur“, erklärt Juror Burkhard Spinnen, „ist die leere Mitte.“

Bereits beim Ausklang des Tages im Strandbad am Wörthersee kann sich niemand mehr so recht an die einzelnen Texte erinnern. Nur die Geschichte von Nina Jäckle, Jahrgang 1966, ist allen in Erinnerung geblieben – vielleicht weil sie am schlechtesten davongekommen war. Dabei hatte die Berliner Schriftstellerin einfach nur auf wenigen Seiten ein Familiendrama genauso beiläufig erzählt wie die heutige Jurorin Birgit Vanderbeke vor mehr als zehn Jahren am gleichen Ort in ihrer preisgekrönten Erzählung „Das Muschelessen“. Konsequenterweise äußert Birgit Vanderbeke dann auch als Erste ihren Unmut, und die Kollegen stimmen freudig ein: „Legoland erzählt“, urteilte Denis Scheck. Während die Verlagsvertreter, Journalisten und Autoren im Wörthersee ein Familienbad nehmen, sitzt Nina Jäckle abseits im Schatten. Hinter ihrer Sonnenbrille „tiefe Traurigkeit“.

Freitag. Am Vortag hatte während einer Lesung im Zuschauerraum ein herrenloses Handy laut zu klingeln begonnen. Nachdem niemand sich entschließen konnte, das Gespräch anzunehmen, trug ein beherzter Mann aus dem Publikum das Telefon mit spitzen Fingern nach draußen. Das ist Klagenfurt: Störgeräusche werden einfach ausgeblendet. So werden aus dem Inneren dieses schallisolierten Systems heraus die tagesaktuellen Nachrichten von der Krise des Buchhandels, der Walser-Debatte oder der verheerenden Situation in der Zeitungsbranche zum gedämpften Nachhall einer weit entfernten Welt.

Die Folge dieses hermetischen Abschlusses ist, dass ein Text, der beliebige Störgeräusche der Außenwelt als Zitate in das Innere des Systems bringt, in Klagenfurt einen großen Effekt hervorrufen kann. Freitagmorgen liest Peter Glaser, Jahrgang 1957, Ex-Tempo-Kolumnist und Romanschriftsteller. Es geht um eine enttäuschte Liebe, es wird viel gereist, nach Ägypten, Athen und Italien und zuletzt nach Hamburg. Zwischendurch verschickt jemand eine SMS, und dann, fast könnte man es übersehen, erwähnt der Erzähler den Anschlag vom 11. September. Jetzt wird bedeutsam, was vorher eigentlich niemanden interessiert hat: Peter Glasers Erzählung sei „welthaltig“, entzückte sich Thomas Widmer, ein „Abschied von der Zapping-Mentalität“ sei das, ja möglicherweise, so Robert Schindel, handele es sich gar um „postmoderne Literatur“.

Das geht nur in Klagenfurt: Ein nicht mehr ganz junger Schriftsteller, der mit den literarischen Techniken der Siebziger- und Achtzigerjahre arbeitet und sich immer noch für die Korruption der Sprache durch die modernen Medien begeistern kann, wird wie ein Heiland gefeiert.

Während der Literaturbetrieb zuletzt angesichts der Krisen des Buchhandels, der Verlagswelt und des Feuilletons etwas blass im Gesicht geworden war, legt er sich in der sonnenbeschienenen Idylle Klagenfurts wieder eine gesunde Bräune zu. Denn beim Bachmann-Wettbewerb geht es nicht darum, Trends zu erkennen oder gar zu verkaufen, sondern überkommenen Avantgarde-Modellen zu späten Ehren zu verhelfen. So erhält der Literaturbetrieb sich auch im krisengeschüttelten Jahr 2002 sein Selbstbewusstsein als kultureller Gralshüter, und unter dem Patronat von Päpstin Ingeborg wird der unappetitliche Warencharakter des Buchproduktes in Klagenfurt zu einem Randphänomen. Hier ist die Welt noch in Ordnung.

In ihrem Überschwang bemerken die Juroren nicht sofort, wen sie sich mit Anette Pehnt eingeladen haben. Die Freiburger Autorin, Jahrgang 1967, liest mit „Insel Vierunddreißig“ den Anfang ihres zweiten Romans. Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die sich als Kind mehr aus Langeweile heraus für eine kleine namenlose Insel vor der Küste ihres Heimatlandes zu interessieren beginnt und viel später wirklich zu einer Reise auf diese Insel aufbricht: eine Reise in das unbekannte Land der Kindheit.

Nachdem jeder gesagt hat, was für eine schöne Geschichte das sei, und Pia Reinacher sich sogar zum Superlativ von der „SEHR großen Ökonomie der Mittel“ hat hinreißen lassen, sieht man sich ratlos an. Auch die Juroren und Jurorinnen ahnen, dass es von Schriftstellern und Schriftstellerinnen wie Anette Pehnt seit dem Take-off eines neuen realistischen Erzählens in der Nachfolge Judith Hermanns einige mehr gibt. Die zarte Melancholie der britischen Adoleszenzromane verbindet sich mit amerikanischer Stilsicherheit und der Gewissheit, trotzdem das Buch einer deutschsprachigen Schriftstellerin zu lesen. So etwas liegt, nun ja: im Trend.

Einmütiges Schweigen. Vielleicht denken die Mitglieder der Jury und das Fachpublikum in diesem Moment darüber nach, was aus ihrem Wettbewerb werden würde, wenn man mehr von diesen Texten, die es mit Sicherheit in die Buchhandlungen schaffen werden, einladen würde. Vielleicht würde es dann wirklich Ernst in Klagenfurt.

Samstag. Vier Lesungen stehen noch aus. Nächster Halt: Wirklichkeit. Man beeilt sich, dieses kostbare Ding namens Klagenfurt möglichst knitterfrei einzutüten – genau wie der ernste Leser von Saalfeld seine „Päpstin Johanna“.

Den größten Gefallen tut die 22-jährige Melanie Arns, Studentin am Literaturinstitut in Leipzig, der Jury an diesem Tag mit ihrer Kleinfamiliengroteske „Heul doch!“ – „Mittwochs Sex: Vater pfeift, Mutter springt, er stöhnt, ich kotze“, so beginnt die Erzählung. Und weil es da endlich mal etwas zu lachen gibt, es aber doch um schwergewichtige Themen geht – Erwachsenwerden, familiäre Abgründe und so –, wird gelobt. Eine „Talentprobe“, meint Burkhard Spinnen väterlich, und Denis Scheck stellt mit beiden Augen zwinkernd fest, dass das „kein Klagenfurt-Text“ sei. Natürlich ist es gerade darum ein Klagenfurt-Text!

Die Selbstbezüglichkeit des Systems, die mit der Lesung von Anette Pehnt zu zerfallen drohte, ist wieder hergestellt. Endstation Klagenfurt. Sogar die traurige Nina Jäckle, die am Freitag das Gerücht hatte verbreiten lassen, sie werde verletzt abreisen, sitzt nun wieder im Publikum.

Sonntag. So war es schon bei den Theaterwettkämpfen in Athen: Nach drei Tagen Drama folgt das Satyrspiel. In Klagenfurt fällt es mit der Vergabe der Preise zusammen. Anette Pehnt, auf deren Text sich alle einigen konnten, wird mit dem Preis der Jury (10.000 Euro) auf den zweiten Platz verwiesen – und Peter Glaser, auf den sich alle einigen wollten, ist die Nummer eins (21.800 Euro). Mirko Bonné wird mit dem Ernst-Willner-Preis (8.500 Euro) ausgezeichnet. Auch nicht schlecht, immerhin hatte in der Jury trotz zwei Wochen Einlesezeit nur Burkhard Spinnen die Pointe der Kurzgeschichte des 37-jährigen Hamburgers verstanden. Gut, dass er sie nicht für sich behalten hat. Für seine Erzählung „Steine“ wurde der Berner Lyriker Raphael Urweider, Jahrgang 1974, mit dem 3sat-Preis (7.500 Euro) ausgezeichnet.

Ohne dass man genau erklären könnte, warum, bekommt Christoph W. Bauer, ein sanfter Dichter aus Innsbruck, dann noch den Publikumspreis (5.000 Euro). Per Internet ist er gewählt worden – so öffnet sich das System zuletzt auf der Höhe der Zeit. Der Zug fährt wieder Richtung Norden. In Saalfeld vielleicht könnte man Station machen. Denn in Saalfeld, so stellen wir uns vor, nimmt man es das ganze Jahr ernst mit der Literatur.

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