auf ohrenhöhe: WALTRAUD SCHWAB über das Übernachtungsproblem bei der Love Parade
Chill-out im Hinterhaus
So in etwa geht das: „Du, ich kenn einen, der wohnt in Friedrichshain“, sagt Andy in Recklinghausen zu seinem Freund, „da können wir auf dem Boden pennen.“ Auch Petra aus Brilon hat eine Freundin in Berlin. „Die wohnt im Prenzlauer Berg. Da ist es cool.“ Sie will die Übernachtung organisieren. Timo aus Braunschweig wiederum erinnert sich an den Bruder des Exfreundes seiner Schwester. „Ich hab da ’n Kumpel. Der wohnt im Wedding.“
Im Wedding! Genau wie ich. Deshalb nehme ich an, er meint meinen Nachbarn. Den über mir. Den mit dem Klappbett und den Doc Martins. Und keinen Teppich auf dem Boden, dafür klemmt der Bassknopf an seiner Musikanlage. Klar können die Braunschweiger zu ihm kommen. Aus Frankfurt (Oder) und Posznan hätten sich auch welche angemeldet. Schließlich ist seine Mutter Polin.
In nachbarschaftlichen Verhandlungen, die sich bereits über Monate hinziehen, wurde erreicht, dass der junge Mann über mir nachts auf den Spitzen seiner Doc Martins durchs Zimmer schlurft. Auch sein Klappbett aus den 50er-Jahren wird inzwischen mit Zartgefühl heruntergelassen. Doch die Musikanlage ist und bleibt ein Problem. Vor allem im Sommer. Wenn die Fenster im Hinterhof offen sind. Das gilt allerdings auch für den Schlagerfan im Nachbarhaus. Niemand scheint es zu stören. Nur mich.
Ganz schlecht sieht es immer am zweiten Wochenende im Juli aus. Da ist Love Parade. Schon ein paar Tage vorher nimmt das Verhängnis seinen Lauf: Junge Leute – immer in Gruppen – mit unsicherem Blick und Schlafsäcken unterm Arm suchen die richtige Hausnummer in der Straße. Ein Aufatmen jedesmal, wenn sie in der Nachbarschaft Einlass begehren.
Irgendwann allerdings trifft es jeden. Mich in der Nacht. Das Getrampel im Treppenhaus war nur der Anfang. Schon stapft die Truppe über den Boden der Wohnung über mir. Der Wettlauf gegen den Schlaf kann beginnen. Im Morgengrauen am Montag endet er.
Endlich Großstadt! Die Fremde will erobert sein! Schon gehört der Ort den Ravern aus der Provinz. Türen werden zugeschlagen. Musik wird angestellt. Als Neulinge in Berlin feiern sie ihr Ankommen. Dafür haben sie bezahlt.
Ganz kostenlos nämlich will der an chronischer Geldnot Leidende über mir seinen Palast nicht hergeben. Sieben Leute à 10 Euro, das muss schon sein, selbst wenn es seine Unkosten fürs Liebes-Wochenende nicht deckt. Disco, Alkohol, Pillen! Alles ist teuer. Umgekehrt halten die Ankömmlinge ihren Obolus für einen Freibrief. Jeder soll wissen, dass sie da sind.
„Sind sie bei euch auch angekommen?“, fragt eine Freundin aus Neukölln am nächsten Morgen am Telefon. Sie sind es. „Bei uns campiert sogar ein ganzer Kleinbus vor dem Haus“, sagt sie. „Wie Hunde kacken die in die Büsche vor der Kita.“
Und so geht es weiter: Zu unberechenbaren Tages- und Nachtzeiten stolpern sie mit Bleifüßen das Treppenhaus hoch. Auch wieder runter. Oben reißen sie Türen auf und fallen über Schuhe, Rucksäcke und Erschöpfte. Vor allem im Morgengrauen. Sie werfen Stühle um und brüllen nach Kaffee.
Was „Volume“ an der Anlage bedeutet, wissen sie nicht. „Chill-out“ nennen sie ihr Verhalten, während die Vögel schon zwitschern. Das wahre Elend der Love Parade spielt sich in Seitenstraßen und Hinterhäusern ab. Denn irgendwo müssen die Anhänger der „Liebesrepublik“ ja unterkommen.
„Nie wieder“, lautet mein Schwur. Ich gehe. Letztes Jahr hatte ich Glück: Eine Freundin heiratete. Weit weg. Im Schwarzwald. Von der Kirche zum Gasthaus wurde der Festzug von Blasmusik begleitet. Dieses Jahr warte ich noch auf eine Einladung in die Provinz, während im vierten Stock schon das Möbelrücken beginnt.
Bestimmt wohnen sie am Stadtrand. Die Tourismusmanager, Controller und Christdemokraten mit dem Herz für die Love Parade. Zu lesen wie: „Ein Herz für Kinder.“ Ein Einfamilienhaus ist ihnen eigen. Mit einem Garten drumrum. Hundert Meter Grün auf allen vier Seiten. Dann kommt eine Mauer, und davor steht die Security. Zu guter Letzt ist auch die Straße vor dem Anwesen noch privat. So geschützt akklamieren sie der Jugend, die mit Vorschlaghammerlautstärke zum Motto „Access Peace“ tanzt. Als politisches Bekenntnis reicht das aus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen