tellerrand: Im Rocco sitzen, um zu sehen
Schlank haltende Speisekarten
Zwischendurch, während dieses kurzen, realsozialistischen Zwischenspiels auf der Bühne der deutschen Geschichte, hieß die S-Bahnstation Marx-Engels-Platz. Jetzt heißt sie wieder Hackescher Markt, und vor der denkmalgeschützten Backsteinfassade des Gründerzeitbahnhofs ist das Leben wie auf dem Ku’damm der Zwanzigerjahre. So weltstädtisch hätte es auch am ehemals denkmalgeschützten Lehrter Bahnhof wieder zugehen können – doch der wird gerade abgerissen.
In den alten Backsteingewölben unter den Gleisen am Hackeschen Markt dagegen haben sich Restaurants eingenistet. Sie tragen so mediterrane und zweisilbige Namen wie Dante, Rocco, Zucca oder Barist, als gehörten sie alle zu einer Familie. Sie gleichen einander, als stünden sie unter gemeinsamer Schirmherrschaft. Lediglich die Farbe der quadratischen Sonnen- oder Regenschirme auf dem Platz variiert von Tür zu Tür.
Auch das Publikum ähnelt einander, die Handys klingeln, man trinkt „gerade einen Caipirinha“, kann „heute Abend leider nicht“ und der „neue Wagen ist wirklich toll“. Das Publikum ist schöner als im Wedding, die Speisekarten halten schlank. Das „kleine französische Frühstück“ im Rocco begnügt sich mit Croissant, Butter und Marmelade für 3,80 Euro.
Für Unersättliche gibt es einen Nachschlag von Butter, Marmelade oder Nutella für jeweils nur einen Euro. Wem das zu kostspielig zu werden droht, der kann den Tag für 7 Euro echt „englisch“ mit Spiegeleiern, Bohnen und Speck, dazu passend Toast und Konfitüre, beginnen. Oder mit dem italienischen Frühstück. Oder mit der poetischen Wortkreation „Himmel über Berlin“, die so triviale Federviehprodukte wie ein gekochtes Ei, Putenschinken oder Geflügelwurst umschreibt, welche wahrscheinlich aus Polen eingeflogen wurden.
Ansonsten orientiert man sich am Hackeschen Markt eher am Westen, Süden oder ganz fernen Osten. Zu Mittag gibt es Hamburger und Cheeseburger XXL, Rühreier Naturell, Chicken Biryani, Enchiladas und Pizza mit einem Durchmesser von 26 oder 32 Zentimetern. Zwischen 5 und 13 Euro.
Aber schließlich sitzt man nicht hier, um zu essen. Man sitzt, um zu sehen, wie junge Männer auf silbernen Rollern vorüberrollen, Frauen in weißen Kleidern vorüberflattern, die letzten Hippies barfuß über die Straße schweben, und wie die ganzen Flanierer und Spazierer plötzlich in aufgeregten Galopp verfallen, wenn der Himmel über Berlin sich öffnet und die ersten Tropfen eines großen Regens fallen. Während man selbst ganz gemütlich im Trockenen sitzt.
HANS W. KORFMANN
Rocco, Am Zwirngraben 13/14, Berlin-Mitte
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen