documenta 11 spot
: „Book of Words – Random Reading“ von Ecke Bonk

Zerlegung für den Weg zum Ziel

Ganz hinten rechts im 1. Stock des documenta-Hauptgebäudes, in einem grau gestrichenen Raum, erklären Leuchtprojektionen Stichwörter aus einem Lexikon: Lebendigmachung etwa, Verzückung oder Gemeindewiese. Längere Texte scrollen langsam nach unten, kürzere wechseln alle 24 Sekunden. Über die hundert Tage documenta-Zeit sollen so per Zufallsgenerator und digitaler Bearbeitung rund 69.000 der insgesamt 350.000 Schlagwörter des Deutschen Wörterbuchs erscheinen. Dessen 32 Bände haben die Brüder Grimm und nach ihnen viele Professoren zwischen 1853 und 1960 zum Gesamtverzeichnis der hochdeutschen Sprache zusammengetragen. Die Projektionen im grauen Raum mögen die riesige Aufgabe der Gelehrten mit ihrer langsam verstreichenden Zeit zusammenführen, doch diese Idee kommt nicht über die Oberflächlichkeit von Konzeptkunst hinaus. „Random Reading“, so der Name des Werks, wirkt wie 70er-Jahre-Schnickschnack mit modernen Mitteln.

Dennoch hat der Medienkünstler Ecke Bonk mehr als das geschaffen: Im Vorzimmer zum grauen Raum hat er das ungleich beeindruckendere „Book of Words“ ausgestellt, das die Zerlegung der geistigen Arbeit zeigt, die das Deutsche Wörterbuch überhaupt erst ermöglicht hat. Zerlegung in doppelter Hinsicht: Jacob und Wilhelm Grimm merkten schon nach kurzer Zeit, dass ihre Aufgabe zu zweit nicht zu bewältigen war. Abhilfe schuf die Arbeitsteilung mit weiteren Bearbeitern, die zugleich an mehreren Buchstaben arbeiten konnten. Zugleich änderten sie die Erscheinungsweise des Wörterbuchs. Anfangs erschienen die einzelnen Lieferungen, alle paar Monate 80 Druckseiten, in alphabetischer Reihenfolge; lagen alle Lieferungen eines Bandes vor, kamen sie zum Buchbinder. Die Fachkollegen der Grimms begannen aber gleichzeitig verschiedene Buchstaben zu bearbeiten und machten auch unterschiedliche Fortschritte. Deswegen ging bald – nach genau ausgeklügten Plänen – gerade das in Druck, was bearbeitet, und nicht mehr das, was alphabetisch an der Reihe war; manche Bände wurden erst nach Jahrzehnten fertig.

Ecke Bonk nun stellt alle 427 bisherigen Lieferungen – nach den 380 der 1. Auflage auch die bislang 47 der Neubearbeitung seit 1965 – in der chronologischen Reihenfolge ihres Erscheinens aus. Er hat sie als Kunstwerke gerahmt und an vier Wänden aufgehängt, sodass nur die Titelseiten mit der Angabe der Stichwörter zu sehen sind. Auf Lieferung 34, kommend–krachen, folgt Lieferung 35, Fül–fürders; hört die eine Lieferung mit dem Stichwort Sprechen auf, beginnt die nächste mit Getreide usw. Bei Besuchern, Betrachtern, Benutzern zerstört eine solche Präsentation die Hermetik eines Wörterbuches, nicht nur im Hinblick auf seinen Gegenstand, die Sprache, sondern auch auf seinen Zweck, das Wissen. Bonk führt ein Großnachschlagewerk auf die Bedingungen seiner Produktion zurück. Besondere ästhetische Dichte erreicht er durch die Wahl des Ausstellungsortes: Im documenta-Hauptgebäude Museum Fridericianum, einem der frühesten zur Forschung gebauten Gebäude überhaupt, war auch eine große Bibliothek untergebracht, im 19. Jahrhundert überall der wichtigste Ort der Wissensproduktion und -reflexion. Und hier, genau im rechten Flügel des 1. Stocks, haben die Grimms 15 Jahren lang als Bibliothekare gearbeitet.

„Book of Words“ zeigt den Prozess der Entpersönlichung wissenschaftlicher Erkenntnis als Weg ohne Ziel – denn seit hundert Jahren kann kein Bearbeiter mehr hoffen, ein solches Wörterbuch innerhalb eines Arbeitslebens zu bewältigen, und setzte er noch so viel Technik ein. Den Faktor Zeit ins Positive wendend, wird Bonk aber auch den Fortgang der Produktion zeigen: Sobald die Lieferung 48, auffassen–aufpfeifen, der Neubearbeitung erscheint – nach Auskunft des Hirzel-Verlages wohl noch im August –, wird sie in Kassel hinzugefügt.

Bonk hat lange recherchiert, um von jeder Lieferung ein Exemplar aufzutreiben, das ungebunden blieb. Zur Freude von Sammlertypen tragen die Deckblätter die unterschiedlichsten Bibliotheksstempel; nach Abschluss der documenta gehen die Exponate zurück an die Leihgeber. Zwecks späterer Neuversammlung bleibt die Vereinigung immerhin auf dem Papier erhalten: als Liste von Herkunftsnachweisen.

Im Grunde ist das Book of Words auch eine Hommage an ein weithin unbekanntes Ordnungs-Hilfsmittel der Bibliothekare, die Konkordanzen. Das sind Verzeichnisse von oft gewaltigem Umfang, die im weitesten Sinn zwei Ebenen verknüpfen: hier Lieferungen mit Bänden und Bänden mit Lieferungen, aber etwa auch Alt- mit Neusignaturen oder Pertinenzen, also zusammengehörige Sachbetreffe, mit Provenienzen, die die Herkunft des Schriftgutes anzeigen. Meist listet die eine Seite einer Konkordanz die Vergangenheit auf und die andere Seite die Gegenwart. Bonk hat sie als geheime Gestalterin seiner Arbeit eingesetzt; unerkannt prägt sie als Gitternetz der Organisation die Struktur seines Kunstwerks.

Trotz aller Recherche: Zwei Lieferungen hat Bonk nicht erwischt, die Nummern 32 und 113. Ihre Rahmen blieben leer, neutral ausgedrückt: als beleglose Phasen einer Entstehungsgeschichte, oder lakonisch: weil Rekonstruktion immer auf Leerstellen stößt. DIETMAR BARTZ