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Benjamin lebt hier nicht mehr

Tasmanische Tiger sind ausgestorben. Oder doch nicht? In ihrem Romandebüt „Der Jäger“ erzählt die Schriftstellerin Julia Leigh von dem Versuch eines zivilisationsmüden Mannes, der australischen Wildnis ihre letzten Geheimnisse zu entreißen

von JÜRGEN BERGER

Mitte Mai schaffte es eine ungewöhnliche Meldung bis in die „Tagesschau“. Wissenschaftlern des Australian Museum sei es gelungen, aus einem konservierten Embryo des ausgestorbenen Tasmanischen Tigers Gene zu isolieren. Mit großer Wahrscheinlichkeit, so Museumsdirektor Mike Archer, werde in den nächsten zehn Jahren ein neues Geschlecht der Art geklont.

Man kann also davon ausgehen, in naher Zukunft erste Bilder eines putzigen Thylacinus Cynocephalus in den Nachrichten zu sehen. Immerhin wäre damit eine nationale Schande Australiens getilgt und der wegen seiner Streifen am Hinterleib fälschlicherweise „Tiger“ genannte Beutelwolf wenigstens als Klon wieder auferstanden. In Australien erfreut sich die Wolfsart schon jetzt eines so großen Interesses, wie das nur einmal der Fall war – als die Australier sie aurotteten.

Am 7. Dezember 1936 starb im Zoo von Hobart auf der Südaustralien vorgelagerten Insel Tasmanien das letzte Exemplar der Art. Sein Name war Benjamin, und es ist zu vermuten, dass auch der erste Replikant so heißen wird. Wahrscheinlich werden die Wissenschaftler gleich ein ganzes Wolfsrudel replizieren – wäre es doch inhuman, ein einzelnes Tigerchen verstört auf dem blauen Planeten wandeln zu lassen, wo es schutzlos auf einen anderen einsamen Wanderer wie Martin David treffen könnte. Der ist der Held in Julia Leighs Erstling „Der Jäger“, landet auf Tasmanien, mietet einen silbernen Four-Wheel-Monastery, gibt sich als Naturforscher aus, fährt in Richtung des Central Plateau und landet dort zielsicher in einem Haus nahe des Plateau-Aufstiegs. Dort trifft M. auf ein pfiffiges Mädchen mitsamt jüngerem Bruder. Die Mutter der beiden gibt sich in verwahrlosten Räumen einem Dornröschenschlaf hin. Das geht so, seit der Gatte oben auf dem Plateau verloren ging. Mit M. könnte es wieder anders werden. Aber leider drängt es den guten Mann in eine andere Richtung.

M., den Julia Leigh selten mit vollem Namen nennt, startet zu mehrtägigen Pirschgängen in die Wildnis. Man ahnt: Der jagt den Tasmanischen Tiger, obwohl es das Tier eigentlich gar nicht mehr gibt. Dafür kursieren Gerüchte, ein letztes Exemplar verstecke sich oben in der Wildnis. Gelänge es M., das letzte Exemplar zu erlegen, wäre sein Auftraggeber hoch beglückt. Ein Pharmakonzern verspricht sich neue Rohstoffe für Medikamente.

1999, als „Der Jäger“ in Australien erschien, dachten die Wissenschaftler am Australian Museum gerade über Klonversuche nach. Das Debüt der 32-jährigen Autorin ist also nicht nur ein leichter und exakt geschriebener Roman. Julia Leigh legt mit ihrer detailgenauen Geschichte des Tigerjägers auch ein Buch vor, das aktuelle wissenschaftliche Entwicklungen weiterspinnt. Dabei bleibt Leigh immer nah an ihrer Geschichte und überfrachtet ihren Jäger nicht mit wissenschaftlichem Gedankengut. Sie muss genau recherchiert haben; so weiß sie etwa, wie feinmotorisch sich eine derartige Killermaschine in der Wildnis bewegen muss.

Als M. ein erstes Zeichen findet, das auf die Existenz des letzten Tasmanischen Tigers hinweist, wird der Jäger zum Tier. Er schmiert sich mit Tierkot ein, um den Menschengeruch zu unterdrücken, schleicht tagelang durchs Unterholz, fällt nur noch gelegentlich in wachen Halbschlaf und erinnert sich vornehmlich in sternklaren Nächten, dass es noch etwas anderes gibt: Häuser, Sprache, Frauen, Sexualität, Romantik. Was wird aus einem Borderliner, bewegt er sich jenseits der Zivilisation? Und vor allem: Wie verhält er sich, wenn er in Zivilisationsräume zurückkehrt und auf die Frau aus dem Haus trifft? Die Antwort ist einfach: Wie ein Jäger! Er wartet, wartet und wartet, bis er sicher sein kann, dass sie bereit ist. Dann schlägt er zu – oder auch nicht, je nachdem, ob wichtigere Jagdinteressen anliegen.

M. lässt sich auf das in seiner Gegenwart zunehmend lebendigere Dornröschen natürlich nicht ein. Ansonsten könnte er nicht mehr auf die Hochebene zurückkehren. Etwa in der Mitte des Romans treibt Julia Leigh ihre Parallelführung von Eros und Thanatos auf die Spitze, gleichzeitig macht sie aber deutlich, wo die Parallelen aufhören. Gerade hat M. sich klar gemacht, warum er nicht auf die Avancen seiner Gastgeberin eingeht, da entdeckt er beim Wiederaufstieg ein Schneemaßliebchen und erinnert sich an seine erste Liebe. In Gedanken treibt er die Parallele von Liebeswerben und tödlicher Jagd voran, gebietet sich dann aber Einhalt. „Diese Sehnsucht nach Verführung ist selbst verführerisch. Und sie ist irreführend. Das Tier ist keine Frau. Er wird es nicht mit süßen Worten, Wein und Rosen erobern.“

Liest man das, fragt man sich einmal mehr, wie Julia Leigh es schafft, die Einkreisung des Tigers – es könnte auch eine Tigerin sein – so kühl-kalkuliert zu zelebrieren und doch glutvoll wirken zu lassen. Ob es die Schimäre tatsächlich gibt, hält sie bis zum Ende in der Schwebe. Es wäre unfair zu verraten, ob die Wissenschaftler des Australian Museum schon zu einem Zeitpunkt ernsthafte Konkurrenz aus dem schönen Reich der Erzählkunst hatten, als sie gerade anfingen, über einen Klon des Tasmanischen Tigers nachzudenken.

Julia Leigh: „Der Jäger“. Aus dem Englischen von Christel Dormagen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2002, 208 Seiten, 18,90 €

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