: Szenetreff mit Schluckbeschwerden
Wer was auf sich hält, fährt Saab und fühlt sich hier eine Idee frischer als in Charlottenburg oder Schöneberg. Mit Jürgen Trittin, Meret Becker und Florian Illies in direkter Nachbarschaft ist der Kollwitzplatz inzwischen ein höchst uncooler Ort geworden
von GERRIT BARTELS
Am schönsten ist es am Kollwitzplatz an Samstagen und Sonntagen zwischen acht und neun Uhr. Fast menschenleer ist es dann, nur ein paar Anwohner führen ihre Hunde spazieren, und geradezu unschuldig liegt der Platz mit seiner Wiese und den Spielplätzen im ersten Sonnenlicht. Selbst die bronzene Ausgabe von Käthe Kollwitz im Zentrum der Grünanlage, der das alltägliche Treiben auf dem Platz ansonsten ein Rätsel ist, passt plötzlich. Mit ihren niedergeschlagenen Augen und der stoisch demütigen Haltung scheint sie ein massiver Ruhepol für die gesamte Umgebung zu sein.
Es ist die Ruhe vor dem Sturm, die an solchen Tagen herrscht. In den Cafés macht sich das Personal fit für den bevorstehenden Rummel, stellt die Stühle heraus und arrangiert das Frühstücksbüfett, und vereinzelt lassen sich die ersten Gäste mit einer Zeitung nieder. Die Gastronomie bestimmt die Gezeiten am Kollwitzplatz – nach der Oranienburger Straße dürfte es hier inzwischen die höchste Dichte an Cafés und Restaurants in der Stadt geben. Und nach Chamissoplatz und Gendarmenmarkt dürften sich hier wahrscheinlich die meisten Touristenbusse durch die Straßen wuchten.
Mit anderen Worten und ganz im Sinn solcher Berliner, die zwar nicht in Berlin geboren, aber schon vor der Wende in den Osten oder den Westen der Stadt gezogen sind: Es ist irgendwie unschön am Kollwitzplatz und unsozial sowieso. Die Alteingesessenen sind verdrängt worden und in die frisch sanierten Wohnungen sind junge Ärzte, Anwälte und Architekten gezogen. Natürlich nur die, die es sich leisten können, denn es soll auch Angehörige aus diesen Berufsgruppen geben, die am Rande des Existenzminimums ihr Dasein fristen. Die neuen Kollwitzplatz-Anwohner sorgen im Übrigen dafür, dass es hier auch die höchste Saab-Dichte Berlins (vielleicht der Republik) gibt. Wer was auf sich hält, fährt eben nicht Benz, Passat oder BMW und fühlt sich am Kollwitzplatz eine Idee frischer als in Charlottenburg oder Schöneberg. So gibt es in bestimmten Kreisen der Stadt das Gerücht, dass der Platz auch ein Szeneanziehungspunkt sei, ja sogar, dass man hier und in der Umgebung gar clubben gehen könnte. Was definitiv nicht der Fall ist, um 1 Uhr nachts sind alle Bürgersteige hochgeklappt.
Allerdings galt der Prenzlauer Berg vor der Wende als Szenebezirk, und auch nach der Wende hatten Läden wie das Café Westphal und die Kommandatur ihre szenistische Anziehungskraft. Im Nachhinein wurden sie regelrecht mythifiziert: „Mutter aller Kneipen“ nannte die Berliner Zeitung das Westphal in einem Nachruf 1997, „Heimstatt des Genius Loci“ gar.
Leider war es dann so, dass das spartanische, an die DDR gemahnende Westphal und die runtergerockte Kommandatur den Kollwitzplatz gastronomisch erst urbar machten. Jede Revolution frisst ihre Kinder, und das neue Berlin frisst sie ein bisschen schneller (und bald auch noch sich selbst). Warum man aber nun das Belluno oder das Weizmann aufsuchen soll, die Restaurants Santiago oder Sandros, das Istoria oder das Monterosso, außer um einfach und einigermaßen preiswert satt zu werden, erschließt sich nicht im Geringsten. Vielleicht um mal Jürgen Trittin zu sehen, der hier irgendwo wohnen soll? Oder Wolfgang Thierse? Oder Meret Becker? Oder den selbst ernannten Hedonisten Florian Illies mitsamt Freundin? Doch eigentlich gemahnen die meisten Läden nur daran, dass der Ballermann doch gleich um die Ecke liegt – im südlichen Teil der Kollwitzstraße nämlich, an dessen Anfang eine Cocktailbar neben der anderen residiert. Sicher ist: Elisabeth Binder und Bernd Matthes würden sich, so sie überhaupt mal ihren Weg hierherfinden, in ihrer bekloppt-genialen Tagesspiegel-Kolumne „Von Tisch zu Tisch“ winden und noch mehr winden.
Kann man aber an den Cafés und Restaurants mit einer gewisen Gelassenheit vorbeischreiten, stimmen andere Läden um einiges nachdenklicher. Denn an der Ecke Knaack- und Wörther Straße liegen drei Geschäfte, die exzellent anzeigen, wer sich hier im Kiez seit Jahren zu Hause fühlt. Da ist zum Einen der „Strandbad“ genannte Laden, der alles verkauft, was man so zum Baden braucht, vor allem aber nicht braucht. Er macht den Eindruck, als hätte sich hier jemand so richtig selbst verwirklicht. Dann ein Antiquitätengeschäft namens „Kun(s)t-A-Bunt“, das auch Kunst und Wein vom Rhein verkauft. Das eingeklammerte s macht jedes weitere Wort überflüssig. Und schließlich noch, sozusagen die Crönung, „Coledampf’s Centrum“, wo es Ceramic, Cochlöffel und anderen Schmuh mit c gibt. So schlimm war es wahrscheinlich nicht mal in Schöneberg und dem einstigen Kreuzberg 61 der späten Achtziger- und frühen Neunzigerjahre.
Bei allen Schluckbeschwerden hat es trotzdem eine Menge Vorteile, am Kollwitzplatz zu wohnen. Er vermittelt eine Ahnung davon, wie schön es sein kann, jeden Tag Sommerferien zu haben, zumindest am frühen Morgen und bei bestimmtem, leicht schimmeligem Wetter. Man verspürt hier mitunter eine schöne Ruhe in sich und ist gänzlich desinteressiert an den hohen Drehzahlen von Mitte. Und, sehr wichtig, es schlägt einem hier nicht wie in Kreuzberg an jeder Ecke entgegen, dass Coolness, Alternativsein und Szeneverbindungen alle ihre Zeit haben und im hohen Alter mitunter gar nicht mehr so schön anzusehen sind.
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