: Berlin & ich (5)
Fünf Stunden und neun Minuten braucht der ICE von Bonn nach Berlin. Noch ein Sonntagmorgen am Rheinufer und noch einmal mit der „Rheinnixe“ aus Beuel übersetzen, dann sitze ich neben unendlich viel Gepäck und der obligatorischen Plastiktüte mit in letzter Minute gewaschener Unterwäsche im Zug. Fünf Stunden und dann nie wieder Sechzigerjahre-Idylle und Studentenausweis, sondern endlich Bahnhof Zoo.
Andere, Mutigere als ich, wohnen schon längst in den vierten Stöcken der Hinterhäuser am Prenzlauer Berg. Auch Friedrichshain ist nicht mehr Avantgarde. „Lässig“ sei es, das neue Berlin. So haben sie es mir versprochen. Tagsüber hängt man am Helmholtzplatz rum und schreibt an seinem Romanmanuskript, abends schaut man kurz bei ein paar Kontakten in einer Autorenwerkstatt in Mitte vorbei, um dann nachts in den Lounges die Sofas durchzusitzen.
Doch bis ich so weit bin, ist Berlin für mich erst mal die Wohnung meiner älteren Schwester und Wilmersdorf. Und ich stelle fest: Berlin muss nicht hip sein. Es kann auch anders. Während der Osten wild wurde, pflegte der Westen sein Inseldasein. Unter den Linden erkämpft man sich erbittert ein historisiertes Prachtberlin. Doch mindestens ebenso erbittert versuchen Kurfürstendamm und Bahnhof Zoo ihr Achtzigerjahre-Image zu konservieren.
Am Zoo setzt man auf einfache Signale. Es werden möglichst wenig Gleise für den Fernverkehr genützt, so dass ich mich noch möglichst lange an der angetrunkenen Kegelgruppe aus Hagen erfreuen kann. In der Halle gibt es ein Angebot von Fastshopping, gegen das das Bonner Loch fast gut aussieht. Draußen erwartet mich eine Bahnhofsstimmung, wie sie durch die frühen Folgen von „Praxis Bülowbogen“ und Fernsehauftritte von Harald Juhnke bekannt wurde.
Doch auch die Flucht in Richtung Kurfürstendamm bringt keine Besserung. Das Bild ist bestimmt von klotzigen Kaufhäusern rund um die Gedächtniskirche, Sonnenbrillenhändlern und Touristen in Shorts, die die Überreste ihrer Taille mit Hip-Bags kennzeichnen. Auch diese Szene kenne ich aus dem Fernsehen. Es würde mich nicht überraschen, wenn Thekla Carola Wied von „Ich heirate eine Familie“ auf einmal mit ihrem klapprigen Pkw um die Ecke böge, um den letzten Parkplatz vor ihrer Baby-Boutique zu ergattern.
Ich wende mich an meinen Reiseführer, um die Zeitschlaufe Westberlin besser zu verstehen. Charlottenburg war bis 1920 noch eine eigenständige Stadt, werde ich belehrt. Keine Entschuldigung, aber zumindest eine Erklärung für den Vorstadtcharme der Wilmersdorfer Straße. Für Wilmersdorf selbst sieht es schlechter aus: „Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts behielt es seinen Dorfcharakter.“ Damit hätte es der Bezirk auch besser gut sein lassen. So wäre ihm erspart geblieben, dass heute Vogue-Redakteure und andere unfreiwillige Neuberliner aus Hamburg und München seine Designerlädenpassagen als „einzige Gegend Berlins, in der es sich überhaupt lohnt einzukaufen“, loben.
Meine Schwester wohnt ganz hinten am Kurfürstendamm, Haltestelle Halensee. Hier gibt es keine Hinterhöfe, hier gibt es Schrebergärten entlang der Gleise. Ich finde auch keinen türkischen Laden, der auf wunderbare Weise am Sonntagabend geöffnet hat, nur eine Tanke. Meine erste Nacht in Berlin verbringe ich an der Pizzabude am S-Bahnhof Halensee. Später kaufe ich mir ein Bier und warte, bis die letzte S-Bahn unter der Brücke durchgefahren ist. JUDITH LUIG
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