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Pauline in Ketten

Aufzeichnungen aus dem Familiengefängnis: In ihrem Erzählband „Der Traum meiner Mutter“ begibt sich die kanadische Schriftstellerin Alice Munro zurück in die Zeit vor der Frauenbewegung

Kein Blick auf eine bessere Welt, keine Hoffnung aufein Wunderland

von JENNY FRIEDRICH-FREKSA

Pauline und Brian sind mit ihren beiden Töchtern und Brians Eltern in den Ferien. Brian ist eigentlich ein netter Mann, allerdings etwas besitzergreifend und dumm. Er glaubt, Pauline umso glücklicher zu machen, je mehr er sie an den Ritualen seiner Familie teilhaben lässt. Und so ist der gemeinsame Urlaub im Grunde ein Fortsetzungsroman über das Leben der Brian-Family, in der Pauline den Part der netten Schwiegertochter geben darf oder außen vor bleibt.

Paulines Gedanken sind ganz woanders. Zu Hause hat sie eine Affäre mit dem zynischen Regisseur ihrer Theatergruppe. Als der sie in den Ferien anruft, verlässt sie von einer Minute zur nächsten ihren Mann, um mit ihrem Liebhaber zusammenzuleben – für den Preis, dass sie auch ihre Kinder zurücklässt.

Letztendlich hält auch die neue Liebe nicht, und ihre Töchter werden es Pauline später nie verzeihen, dass sie sie verlassen hat. Die Flucht aus ihrem Leben bringt Pauline kein Glück, doch es besteht auch kein Zweifel, dass zu bleiben das noch größere Desaster gewesen wäre.

Die kanadische Autorin Alice Munro – im angelsächsischen Raum renommiert, hierzulande immer noch zu entdecken – schreibt in ihrem Erzählband „Der Traum meiner Mutter“ über Mädchen und Frauen, die in unglückliche Familiengeschichten verstrickt sind, festgehalten in einer stillen Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart, die sie nicht durchsteigen. In einer Geschichte entdeckt eine junge Frau zufällig, dass ihr konservativer Vater, ein Arzt, heimlich Abtreibungen vornimmt. Sie selbst hat gerade heimlich ihr Kind zur Adoption freigegeben.

Munros Erzählungen spielen in den Jahren vor der Frauenbewegung, aber viel schwerer als gesellschaftliche Normen wiegen die familiären Korsette. Die Frauen sind eingeklemmt in den strikten Rollenzuweisungen, die die Familie für sie trifft. Lebendig bleiben sie, indem sie sich in das Wunderland ihres Innenlebens zurückziehen. Dort erwartet sie die Erinnerung an eine schöne Vergangenheit oder die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Der reale Ausbruch aus dem vorgezeichneten Familienleben hat in jeder Geschichte einen hohen Preis. Nur in der Titelgeschichte „Der Traum meiner Mutter“ findet eine Aussöhnung zwischen Protagonistin und Familie statt: Jill ist nach dem Tod ihres Mannes gezwungen, mit ihrem neu geborenen Kind in dessen Familie zu leben, die aus der Schwiegermutter und zwei Schwägerinnen besteht. Eine ihrer Schwägerinnen okkupiert obsessiv das Baby, dessen Fürsorge man Jill ohnehin nicht zutraut. Jill zieht sich zurück – in ihr Geigenspiel, das das Babygeschrei übertönen kann und ihr die einzige Chance gibt, aus der äußeren Welt zu flüchten.

Letztendlich ist es nicht nur ein Machtkampf zwischen Jill und der Familie, der sich abspielt, sondern auch einer zwischen ihr und ihrem Baby. Er wird aus der Perspektive des Säuglings erzählt, der fordert, seine Mutter möge in die Realität zurückkehren und sich ihren Aufgaben stellen. Als Mutter und Kind zum ersten Mal ein paar Tage ohne die Familie verbringen, gewinnt die Auseinandersetzung an Schärfe: „Ich schrie nicht ununterbrochen. Ich legte Pausen von zwei oder fünf oder zehn Minuten ein. Als es für sie Zeit wurde, mir die Flasche zu geben, nahm ich sie an, ich lag steif in ihrem Arm und schluchzte warnend, während ich trank. Sobald die Milch halb alle war, ging ich wieder zur Attacke über.“

Die überforderte Jill gibt ihrem Baby schließlich eine Beruhigungstablette, was fast schief geht, denn das kleine Mädchen scheint nicht mehr aufzuwachen. Als es doch wieder zu sich kommt, ist das Problem gelöst: Jill und ihr Kind können sich endlich gegenseitig akzeptieren – die Geschichte kippt im letzten Augenblick vom makabren Ausgang in ein gutes Ende.

Alice Munros detaillierte Sicht auf die unterschiedlichsten Formen von Familienleben sind die große Stärke des Buches, gleichzeitig aber auch seine größte Schwäche. Denn die äußere Welt mit ihren Normen und Regeln tritt nur über das Verhalten der Familie selbst in Erscheinung.

Doch natürlich sind die Rollenbilder, zwischen denen die Frauen wählen können, nicht nur familiär, sondern auch gesellschaftlich vorgegeben. Die Entscheidung, ein anderes Leben zu wählen, wird aber nicht durch den fehlenden Mut erschwert, Nachbarn, Freunde oder Kollegen zu schockieren. Was zählt, ist der Preis, der für den Bruch mit der Familie zu zahlen ist.

Das äußere Leben – die Kleinstädte, in denen die Geschichten spielen, die Menschen, die dort leben – ist nicht wichtig in Munros Geschichten. Den Blick auf eine bessere Welt hinter dem emotionalen Gefängnis der Familie gibt es bei Alice Munro nicht – also auch keine Hoffnung auf ein Wunderland draußen wie drinnen, auf einen Ort, an dem es nicht so schrecklich einsam ist. Zwar befreien sich Pauline, Karin und die Tochter des Abtreibungsarztes, aber glücklich dürfen sie damit nicht werden.

Seit den 50er- und 60er-Jahren, in denen die Erzählungen spielen, hat sich selbstredend einiges bei den weiblichen Rollenspielen verändert. Dennoch ist Alice Munros Buch überhaupt nicht veraltet. Denn sie stellt nicht die Frage, ob Frauen in der Gesellschaft frei sein können, sondern ob Freiheit in persönlichen Beziehungen möglich ist. „Der Traum meiner Mutter“ ist deshalb kein Frauenbuch. Munro macht Frauen zu ihren Protagonistinnen, weil sie mehr zu kämpfen haben. Die Männer im Buch hängen in den gleichen familiären Ketten, nur leiden sie nicht so sehr darunter.

Dieses Rollenbild scheint ein wenig altmodisch zu sein. Das Wunderland der Männer ist einfach nicht Munros Thema.

Alice Munro: „Der Traum meiner Mutter“. Aus dem Englischen von Heidi Zerning. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2002. 192 Seiten, 18 €

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