: Das Straßenbild
Die Reklamerezension. Heute: Schleiertänze, fast nackend
Wer hat Recht: die Kulturpessimisten, die immer behaupten, die Kultur verkümmere, vergammele, komme auf den Hund? Oder im Gegenteil die Optimisten, die gerade eine Ausweitung des Kulturbegriffs bejubeln?
Eine Frage, die gemeinhin im stillen Kämmerlein begrübelt wird – für die aber die Straßen in und um Berlin herum zurzeit auch reiches Anschauungsmaterial liefern. Was früher nur an den Weihestätten der antiken oder zumindest antikisierenden Hochkultur als schicklich und allegorisch besonders wertvoll galt, hat sich in der heutigen Eventkultur ein Nischchen erobert: die demonstrative, aber beiläufig wirken wollende Nacktheit. Und zwar selbst im öffentlich-rechtlichen Raum! Man denke nur an das herausfordernde Angebot des hiesigen Transportunternehmens BVG, seine Fahrgäste am Love-Parade-Wochenende umsonst zu transportieren, wenn diese den offiziellen BVG-Love-Parade-Stringtanga auf der nackten Haut trügen – oder zumindest im Portemonnaie (ist ja nicht viel Stoff dran). Wobei übrigens ungeklärt blieb, ob die unentgeltliche Beförderung nur für Stehplätze galt – wo doch die Hygiene im ÖPNV immer wieder heiß diskutiert wird …
Vielleicht ist es kein Wunder, dass das öffentlich-rechtliche, Berlin-brandenburgische Radio Eins seinen Sitz in der kulturprallen Kleinstadt Potsdam hat und sein Sommerfestival ausgerechnet auf der Berliner Museumsinsel feiert. Überall diese Säulen und Paläste und Statuen! Auf den Plakaten, die zum Museumsinsel-Festival rufen, wagt man jedenfalls eine Synthese aus Hochkultur und Lounge-Sprech. „Move it“, heißt es zu einer offenbar fingerschnippenden Venusstatue, der allerdings die Hände abgefallen sind, „Chill out“, zu einem unschuldig-lasziv entschlummerten Amordenkmal. Damit aber nun niemand denke, bei Radio Eins handele es sich um betuliches Klassikradio, muss noch eine frische Botschaft her: „Nur für Erwachsene!“ Hey, ein offizielles Eingeständnis, dass die antiken Nackten nicht nur idealisch „interesselos“ gelesen werden können! Na bitte, sagen die Kulturpessimisten: Niedergang der Kultur! Ha, sagen die anderen, neue Lässigkeit!
Wer nun allerdings meint, Radio Eins spiele von früh bis spät alles zwischen Donna Summer („Love to Love You, Baby!“) und Sabrina („Yoyo!“), irrt. Die „erwachsene“ Musik von Radio Eins meint vor allem dies: keine Boy- und Girlgroup-Hits! Und keinen Fußbreit den Technojüngern! Auch wenn die nur den BVG-Tanga tragen. RKR
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