läuse, lebern und kabeljau mit kirschen … von KARL WEGMANN:
Wasser. Wasser vom Himmel. „Der letzte richtige Sommer war 1995“, stöhnt Willy. Wir stehen am Fenster und schauen zu, wie das Gewitter seinen Kräutergarten bearbeitet. „Mist“, sagt Willy. „Umweltkatastrophe“, kommentiert Hermann. Basilikum und Thymian gehen im wahrsten Sinne des Wortes den Bach runter. „Auf jeden Fall sind hier überall Bäume umgestürzt“, zitiert Konscho, „und der Schlamm zerrt an meinen Gummistiefeln wie ein gierig saugendes Maul, das mich irgendwann bestimmt in den Abgrund reißen wird, aber einstweilen noch nicht.“ – „Sagt wer?“, frage ich. „T.C. Boyle, ‚Ein Freund der Erde‘“, antwortet Konscho. Dann kommt der Hagel, und der Kräutergarten ist endgültig Geschichte.
Wir kuscheln uns wieder in die diversen Sitzgelegenheiten, füllen unsere Gläser mit schwerem Rotwein und glotzen „Die Sopranos“. Das machen wir seit Stunden; Willy hat gerade DVD Nummer 5 der ersten Staffel eingelegt. „Tony Soprano ist der coolste Killer des modernen Mafia-Entertainments“, meint Hermann. Allgemeines, zustimmendes Gebrumme. Doch nach einer weiteren Folge schaltet Willy plötzlich den Ton aus und sagt: „Das deprimiert mich alles irgendwie.“ Wir verstehen natürlich: Den abgesoffenen Thymian kann auch ein James Gandolfini nicht lustig spielen. „Na komm schon“, grinst Bernd, „kann man halt nichts machen. Dem alten Wolkenmaler da oben kannste keine reinhauen.“ – „Wolkenmaler?“, fragt Hermann. „Rilke“, sagt Bernd. Und schon sind wir bei der Poesie. Der Rotwein wird immer schwerer, und wir lallen unsere Lieblingsgedichte. Bernd natürlich Rainer Maria, Konscho deklamiert irgendetwas von Apollinaire und Hermann kann Malcolm Lowrys „Fünfunddreißig Mescals in Cuautla“ fehlerlos aufsagen. Das ist lustig, das hebt die Stimmung.
Der Regen macht eine kleine Pause, und wir schauen uns die Seenlandschaft in Willys Garten an. „Hat doch was“, witzelt Hermann, „du könntest zum Beispiel Forellen züchten.“ Das wiederum führt dazu, dass wir unsere besten Fischrezepte austauschen. Lachsfrikadellen und Rochenfrikassee, Taschenkrebse und Kalmare wirbeln durch den Raum. Konscho versucht uns gerade Kabeljau mit Kirschen und Rotweinsauce schmackhaft zu machen, als Willy eine neue Flasche öffnet und eine CD in den Spieler schiebt. Nach den ersten Tönen schauen wir alle ziemlich verwirrt. „Springsteen?“, fragt Hermann unnötigerweise, „du hast dir wirklich die neue Bruce Springsteen gekauft?“ Willy zuckt nur mit den Schultern. Die Stimmung sackt wieder ab. Wir nehmen alle einen sehr kräftigen Schluck und hören zu. Dann kommt Regina rein, sie braucht einen Korkenzieher. Sie sieht uns an und sagt: „Oha, Läuse laufen über Lebern.“ Sie will gleich wieder gehen, doch dann hört sie die Musik. Sie hebt den Kopf und murmelt: „Aha, das Gitarrensolo und jetzt …“, sie schnippt mit den Fingern, „ … wird er vom Saxofon abgelöst; es gibt Dinge, die ändern sich nie.“ Ein kurzer Blick in die Runde, und dann lässt uns Regina allein – ohne Korkenzieher und mit Springsteens Trauerarbeit.
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