: „Da ist viel Misstrauen“
Vor 24 Jahren flüchtete Sabour Zamani nach Berlin. Er leitet das Afghanische Kulturzentrum. Jetzt war er zum ersten Mal wieder in Afghanistan. Wenn er eine Perspektive sähe, würde er zurückgehen
Interview WALTRAUD SCHWAB
taz: Herr Zamani, nach 24 Jahren waren Sie jetzt zum ersten Mal wieder in Afghanistan. Letzte Woche sind Sie zurückgekommen. Wie war es?
Sabour Zamani: Das Land hat sich total verändert. Ich bin in Pul-e-Khumri, einer Industriestadt im Norden, aufgewachsen. Die Stadt hat eine Bevölkerungsexplosion erlebt. Viele Leute sind hingezogen auf der Suche nach Arbeit und Schutz. Die Straßen sind so voll, alles kam mir eng vor. Ich habe das Haus gesucht, in dem ich als Kind gelebt habe.
Und gefunden?
Ja. Nur sah es ganz anders aus. Damals hatten wir vier Zimmer. Jetzt waren es neun. Vier Familien wohnen darin. Alle mit sieben, acht Kindern. Früher lebte nur meine Familie dort.
Kannten Sie jemanden im Haus?
Im Haus nicht und nicht in der Straße. Aber wie ein Lauffeuer hat sich herumgesprochen, dass der Sohn von Mohammad Zaman da sei. Innerhalb von zehn Minuten kamen fast 50 frühere Nachbarn. Alle wollten, dass ich sie besuche, bei ihnen esse. Das war schwer, mich loszureißen.
Was haben die Leute über die letzten Jahre erzählt?
Bevor ich wegfuhr, habe ich meine Mutter, die in Kopenhagen lebt, gefragt, ob sie mitkommen will. Sie hat verneint. Sie hat dort zu viel Angst und Schrecken erlebt. Das Gleiche haben die Nachbarn erzählt. Sie sagen: Gott sei Dank, dass alles vorbei ist. Hoffentlich kommt Afghanistan nun zur Ruhe.
Haben Sie Ihre Heimat wiedergefunden?
Die Heimat nicht, die Menschen, die ich kannte, die Nachbarn, die Freunde. Nichts. Niemanden. In Pul-e-Khumri gab es einen wunderschönen Park mit Teehaus. Den habe ich gesucht. Aber der Garten kam mir wie ein zerstörter Friedhof vor. Dort habe ich zum ersten Mal richtig geweint. Dort, obwohl ich in Kabul auch viel Zerstörung gesehen habe.
Fast ein Jahr ist vergangen seit dem 11. September. Was ist heute anders?
Vor dem 11. September habe ich gedacht, die Situation in Afghanistan ändert sich nicht mehr. Ich glaubte, dass ich meine Heimat nie mehr wiedersehen würde. Die Taliban und al-Qaida saßen fest im Sattel, der Widerstand im Lande war schwach.
Haben Sie in Berlin das Afghanische Kultur- und Kommunikationszentrum deshalb als Ersatz für die Heimat 15 Jahre lang aufrechterhalten?
Wir haben mitbekommen, wie die Leute unter den Taliban leiden. Wir wollten diesem Leid eine Öffentlichkeit geben.
Ist Ihnen das gelungen?
Nein. Jahrelang haben wir Informationsveranstaltungen gemacht und versucht, mit der Presse in Kontakt zu kommen. Ohne Resonanz. Wir haben uns so hilflos gefühlt. Unseren Gegnern, den Taliban und den anderen Fundamentalisten, ging es gut. Sie wurden von der Hälfte der Welt finanziell unterstützt, vom Iran, von Pakistan, den arabischen Ländern, den USA.
Und dann der 11. September.
Da wurde das Afghanische Kulturzentrum fast zu einem Pressezentrum. Jeden Tag waren Journalisten und Fernsehteams hier. Nicht nur deutsche, auch japanische, lateinamerikanische und russische.
Warum gerade bei Ihnen und nicht bei der größeren afghanischen Gemeinde in Hamburg?
In Berlin leben etwa 1.200 Exilafghanen. Hier im Zentrum wird keine Arbeit für irgendeine politische Partei gemacht. Unser Ziel ist es, die Kultur zu bewahren. Obwohl wir eigentlich gar nicht von der afghanischen Kultur sprechen können, weil es so viele unterschiedliche Völker, Sprachen, Traditionen im Land gibt. Hier, das ist mitunter wie ein Schmelztiegel. Für manche Afghanen ist das tatsächlich auch fremd, was wir machen. Es ist etwas Eigenes.
Ist Ihre Meinung in den Medien noch immer gefragt?
Leider nein. „Leider“ sage ich, weil das Land heute auch Hilfe braucht. Damals kam die Presse wegen des Kriegs, der Bombardements, des Terrorismus.
Was können Sie heute tun?
Ich will mit Leuten zusammenarbeiten, die etwas für Afghanistan machen wollen, denn vieles läuft falsch. Neulich wurde ich von jemand kontaktiert, der hier Lebensmittel kaufte, um sie nach Afghanistan zu transportieren und einen Dolmetscher suchte. Dabei könnte man mit dem gleichen Geld dort viel mehr Nahrungsmittel kaufen. Vor kurzem rief mich auch ein Mann vom Deutschen Entwicklungsdienst an. Er wird nach Kabul geschickt, um dort afghanische Rückkehrer aus Deutschland zu integrieren. Überlegen Sie sich das! Er selbst kennt das Land nicht und auch keine Afghanen hier.
Wie beurteilen Sie die derzeitige Situation in Afghanistan?
Für viele Menschen ist Frieden der erste Schritt zur Verbesserung. Aber den meisten geht es sehr schlecht. Jetzt dürfen Frauen zwar aus dem Haus gehen, Mädchen dürfen zur Schule, man darf Musik hören, aber oft kann man das nicht. Ich habe erlebt, wie ein Vater versuchte, seine Tochter einzuschulen, und keine Schule gefunden hat.
Muss man für die Schule bezahlen?
Man braucht Geld, um zu bestechen, und man braucht Beziehungen. Dabei ist die Schulsituation katastrophal: Drei Klassen, 90 Schüler, drei Lehrer, drei unterschiedliche Fächer, alles in einem Raum. Ich habe hunderte von Bettlerinnen auf der Straße in Kabul gesehen. Darunter sind Lehrerinnen, die vormittags unterrichten und nachmittags betteln. Ich habe massenhaft Schulkinder gesehen, die vormittags zum Unterricht gehen und nachmittags in Werkstätten und Läden arbeiten oder betteln.
Gibt es auch Kriegsgewinnler?
Es gibt Reiche in Afghanistan. Trotzdem ist die Unzufriedenheit im Land groß. Die Leute hören Minister und Beamten immer wieder sagen, sie hätten kein Geld. Aber ein Teil des Geldes, das Afghanistan vom Ausland bekommt, verschwindet.
Wohin?
Das Land ist für seine Korruption bekannt. Das war früher so und jetzt auch. Wer Beziehungen hat, kann etwas erreichen. Wer keine hat, nicht. Die kleinen Geschäftsleute, die ihre Waren von Pakistan oder dem Iran einführen, denen geht es ganz gut.
Wer kauft die Sachen?
Ich habe festgestellt, dass Leute, die früher Geld hatten, jetzt auch welches haben. Wenn sie dann noch in Pakistan oder im Iran gelebt haben, dort vielleicht ein Teppichgeschäft hatten, dann kamen sie gut über die Runden. Jetzt kommen sie mit ihrem Geld zurück, aber sie haben kein Haus. Das lassen sie sich bauen. So verdienen die kleinen Händler vor Ort etwas. Außerdem werden in Kabul jetzt viele Häuser und Villen, die nicht zerstört waren, renoviert. Die werden teuer an NGOs oder Ausländer vermietet. Wer in Kabul ein Haus für 1.500 Dollar vermietet, der kann alles machen. Es gibt nicht wenige, die auf diese Weise gerade reich werden. Den Beamten, den Lehrern und Lehrerinnen aber, überhaupt vielen gebildeten Leuten geht es schlecht.
Kann man davon ausgehen, dass ein Großteil der Bevölkerung – egal ob reich oder arm – schwer traumatisiert ist?
Jemand in Kabul hat gesagt: Das Ausland hilft uns, aber was können wir machen, wir sind doch alle krank! Ich habe viele total apathische Menschen gesehen. Angstzustände, Depression. Aber das steht alles jetzt an zweiter Stelle, das kann niemand auffangen. Offene Wunden mögen noch behandelt werden, obwohl die Krankenhäuser in einem katastrophalen Zustand sind.
Neulich war in der Zeitung zu lesen, dass indische Filme im Fernsehen verboten werden und dass im Radio auch keine Musik, die von Frauen gesungen wird, gesendet werden darf.
Man weiß wirklich nicht, wie sich die Situation in Kabul entwickelt. Die einen machen sich Hoffnung, die anderen sagen, es ändert sich nichts. Man kann Filme sehen, aber es gibt auch Leute, die stören. Taliban, die sich die Bärte abgeschnitten haben aber immer noch Macht haben.
Kann sich eine Gesellschaft überhaupt so schnell ändern?
Nirgendwo kann sich eine Gesellschaft über Nacht ändern. Eins aber kann ich mit hundertprozentiger Sicherheit sagen: Viele Leute verstehen noch gar nicht, was der Begriff „Demokratie“ überhaupt bedeutet.
Sie waren gegen den Krieg nach dem 11. September. Wurden Sie eines Besseren belehrt?
In Afghanistan gab es bereits 24 Jahre Krieg mit einer Million Toten, 60 Prozent des Landes zerstört, 10 Millionen Minen. Deshalb war und bin ich überzeugt, dass man durch Krieg Frieden nicht sichern kann. Man hätte die Taliban auch so entmachten können. Die Taliban an sich waren nichts. Die hatten Waffen und Geld vom Ausland. Ohne Waffen und Geld kein Krieg.
Es gibt jedoch Afghanen auch in Berlin, die diesen Krieg notwendig fanden.
Einige wussten nicht, wie sie reagieren sollten. Auf der einen Seite der Hass auf die Taliban und auf der anderen Seite das Misstrauen gegen die Amerikaner, die die Taliban stark gemacht hatten. Einige waren wahrscheinlich auch dafür, aber sie haben es nicht öffentlich gesagt.
Gibt es Exilafghanen, die zurückgefahren sind und jetzt dort leben wollen?
Viele sind hingefahren für zwei, drei Wochen und meist enttäuscht zurückgekommen. Sie sehen, dass man dort nicht viel machen kann. Ich weiß nur von zwei Männern, die im November nach Afghanistan gehen und bleiben wollen. Aber sie sind auch sehr unsicher. Es gibt so viele Probleme. Hier hat man eine Familie, eine Arbeit, eine Wohnung. Im Moment kann man die Familie nicht mitnehmen.
Würden viele gern zurückgehen, wenn sie eine Perspektive sähen?
Ja.
Würden Sie selbst gern zurückgehen?
Nein. Ich sehe das realistisch. Ich möchte gerne nach Afghanistan zurück, wenn ich weiß, dass ich dort etwas für das Land machen kann. Ich bin Pädagoge. In Afghanistan könnte ich vielleicht als Lehrer arbeiten. Und 20 oder 30 Schülern Unterricht geben. In Mathematik oder was anderem. Wem nützt das? Außerdem würden meine Kinder, 15 und 13 Jahre alt, gar nicht dort leben können. Von Berlin aus aber kann ich viel mehr für Afghanistan tun.
Ihr halbes Leben haben Sie in Deutschland verbracht. Sie sind eingebürgert, haben einen deutschen Pass. Ist man nach so langer Zeit schon Deutscher oder noch Afghane oder etwas dazwischen?
Wann ist man Deutscher, wann Afghane? Wenn man auf Deutsch träumt? So viel kann ich sagen: Ich lebe gerne hier, aber ich könnte auch in Kabul leben. Obwohl es am Anfang wohl schwierig wäre. Denn die vielen Jahre Krieg haben nicht nur Häuser und Straßen zerstört, sondern auch die Menschen. Die Menschen sind anders geworden.
Wie?
Damals waren die Leute offener, besonders in Nordafghanistan war das eine gemischte Gesellschaft. Männer und Frauen arbeiteten gemeinsam auf den Feldern. Jetzt habe ich das nicht mehr so erlebt. Auch in Kabul tragen die meisten Frauen den Schleier. Da ist Misstrauen, Angst, da sind seelische Verletzungen. Mord, Tod, Vergewaltigung, Armut, Hunger, Gewalt, Krieg. Das Trauma der letzten Jahrzehnte lastet auf den Menschen. Es ist die Burka der Seele geworden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen