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Spurensuche im Eis

Sünden und Erfolge der Umweltpolitik sind in den Gletscherarchiven gespeichert. In den höchsten Gletschern der Alpen verbergen sich Informationen über Klima und Luftqualität vergangener Zeiten

von URS FITZE

Eine Stichsäge rattert in der Tiefkühlkammer des Labors für Radio- und Umweltchemie am Paul Scherrer Institut im Schweizer Villigen. Die Eiseskälte von minus 20 Grad treibt zwei Doktorandinnen zur Eile. Die beiden Frauen zersägen Eisbohrkerne aus dem Altai-Gebirge in Sibirien. Die 70 cm langen Eisstücke stammen vom höchsten Gipfel Sibiriens, dem 4.500 Meter hohen Belucha. Dort sind sie im Sommer 2001 aus dem Gletschereis gebohrt worden. Gut zu erkennen sind kleine, im Eis eingelagerte Luftbläschen. „Das ist ein charakteristisches Zeichen für Gletschereis aus größeren Tiefen. Dieses Bohrstück stammt aus einer Tiefe von 70 Metern“, erklärt die Klimawissenschaftlerin Margrit Schwikowski.

Die Bohrkerne durchlaufen eine ganze Reihe von chemischen und radiologischen Labor-Analysen. Aus dem Altai-Gebirge gibt es kaum Daten über die Entwicklung des Klimas und der Umwelt. In der Region wurde in der Sowjetzeit die größte Quecksilbermine der Welt betrieben. Spuren des Quecksilbers, aber auch von Atombombentests in der kasachischen Wüste könnten sich in dem Eis befinden.

Die Analyse von Eisbohrkernen ist eine noch junge, in den 70er-Jahren entwickelte Methode. Der Fokus richtete sich anfänglich vor allem auf die riesigen Gletscher in Grönland und in der Antarktis. Alpine Gletscher galten damals als uninteressant, weil man davon ausging, dass sie zu warm seien. Zuverlässige Analysen lassen sich nur im Eis machen, das nicht mit Schmelz- oder Regenwasser in Berührung gekommen ist. Um dies auszuschließen, darf auf einem Gletscher die Null-Grad-Grenze nicht für längere Zeit überschritten werden.

Solche Gletscher gibt es auch in den Schweizer Alpen – in Höhen von mindestens 4.000 Metern. Interessant ist dabei vor allem der „Nährbereich“. Das ist die Region, in der das Eis gebildet wird. Dieser Transformationsprozess dauert mehrere Jahre, während die bis zu zwei Meter dicken Jahres-Schneeschichten zusammengepresst werden. Nach einigen Jahrzehnten sind es nur noch wenige Zentimeter.

1982 wurde am Colle Gnifetti die erste bis auf das Felsbett führende Eisbohrung in den Schweizer Alpen durchgeführt. Der über einen Felssattel führende Gletscher liegt auf 4.450 Metern Höhe im Monte-Rosa-Gebiet. 124 Meter tief wurde damals gebohrt. Seither sind zahlreiche Bohrungen auch auf andern Gletschern durchgeführt worden. Die Bohrkerne werden von Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen analysiert.

Ein Blick zurück bis zur letzten Eiszeit

Die Datierung ist dabei wichtige Voraussetzung, um die Entwicklung der Konzentration von bestimmten Stoffen im Eis in einer Zeitreihe dokumentieren zu können. Dabei kommen verschiedene Methoden zum Einsatz. Im Gletschereis lässt sich ähnlich wie bei Baumringen jedes Jahr anhand einer Schicht bestimmen. Doch weil der Druck mit steigender Tiefe stark zunimmt und dabei das Eis immer stärker zusammengepresst wird, funktioniert diese Methode nur bis zu einem Alter von rund 500 Jahren. Danach muss man sich mit chemischen und radiologischen Gletscherflussmodellierungen behelfen, die aber so nahe am Felsbett noch nicht sehr zuverlässig sind. So kann für das älteste Gletschereis aus den untersten Schichten am Colle Gnifetti bislang nur eine Zeitspanne von 2.000 bis 10.000 Jahren angegeben werden. Es könnte demnach aus der Römerzeit oder sogar noch aus der jüngsten Eiszeit stammen, die vor rund 10.000 Jahren zu Ende ging.

Im Labor für Radio- und Umweltchemie wird inzwischen fieberhaft an einer Radiocarbon- Analyse-Methode gefeilt, die eine genauere Datierung auch für diese ältesten Eisschichten erlaubt. „Damit könnten wir ein neues Kapitel in der Erforschung der Klimageschichte aufschlagen“, hofft Margrit Schwikowski. Für verschiedene Schadstoffe, die in den Gletschern gebunden sind, ließe sich nachweisen, wie viel davon aus vom Menschen verursachten Emissionen stammt. Im Rahmen des vom Nationalen Forschungsschwerpunkts Klima geschaffenen Projektes „Vita“ werden die Daten von Gletscherarchiven, Baumjahresringen und Seesedimenten kombiniert. Damit könnte nicht nur das regionale Klima der vergangenen Jahrhunderte rekonstruiert, sondern auch ein Beitrag für die Entwicklung von zuverlässigen regionalen Klimamodellen geleistet werden.

Nicht zu übersehen sind die vom Menschen im vergangenen Jahrhundert verursachten Schadstoffemissionen im Gletschereis. Sei es Blei, Russ, Nitrat, Ammonium oder Sulfat: Bei sämtlichen Stoffen zeigt sich in den Zeitkurven ein ähnliches Bild. Ab ungefähr 1900 beginnt sich die Konzentration im Eis zu vervielfachen, erreicht in den 70er-Jahren ihren Höhepunkt, um dann ein rundes Jahrzehnt später allmählich wieder abzusinken – ohne allerdings das tiefe Niveau des 19. Jahrhunderts wieder zu erreichen.

Sünden, aber auch Erfolge der Umweltpolitik sind so im Gletscherarchiv gespeichert. Zum Beispiel beim Schwermetall Blei: Zwischen 1945 und 1980 zeigt sich eine dramatische Zunahme. Darin spiegelt sich das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit, das dem Automobil zum endgültigen Durchbruch verhalf. Damit stieg auch der Verbrauch von bleihaltigem Benzin explosionsartig an. Die als Folge der Katalysatorenpflicht notwendige Verwendung von bleifreiem Benzin führte zu einem raschen Abfall des Bleigehaltes im Gletschereis. Dieser hat sich wieder auf dem Niveau der 40er-Jahre eingepegelt. Das ist noch immer weit weg vom natürlich vorkommenden Bleigehalt. Denn schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts häuft sich das Blei im Gletschereis – eine direkte Folge von Bleiverhüttung und dem zunehmenden Verbrauch von Kohle.

Bei Sulfat zeigt sich ein ähnliches Bild. Es stammt aus schwefelhaltigen Treibstoffen, die in Industrie und Gewerbe, aber auch im Verkehr verwendet wurden. Mit dem zunehmenden Einsatz schwefelarmer Öle und dem Einbau von Filteranlagen gelang die Trendwende. Die Sulfatkonzentration liegt im Gletschereis heute bei rund 0,2 Milligramm pro Liter. Das ist noch ein Drittel des Standes von 1970.

Dass die Klimaerwärmung auch vor den Gletschern nicht Halt macht, zeigt nicht nur deren anhaltender Rückzug. Die Klimaforscher haben inzwischen Mühe, geeignete Bohrstandorte zu finden. Wenn die Null-Grad-Grenze schon im Frühsommer, wie dieses Jahr geschehen, auf über 4.500 Meter steigt, könnten auch die höchsten Gletscher als Klimaarchive bald wertlos sein.

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