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09/11: ägyptenArabische Reflexion

Mit Sonderbeilagen in den Tageszeitungen und Sondersendungen in allen Fernsehsendern beging auch die arabische Welt den Jahrestag des 11. Septembers. Gelegentlich mit etwas Selbstreflexion und Selbstkritik, oft aber auch ein wenig aufsässig wurde da auf das letzte Jahr zurückgeblickt. Unter dem Titel „Nichterfüllte Erwartungen“ kritisierte die saudische Tageszeitung Asch-Scharq Al-Ausat in einer 24-seitigen Beilage Bin Laden und die Seinen und deren Hoffnung, mit ihrer Militanz ihre politischen Ziele zu erreichen. Afghanistan hätte sich nicht als neues amerikanisches Vietnam erwiesen, kein islamischer Staat sei bisher in die Hände der Radikalen gefallen, die arabische Straße sei nicht explodiert, der Kampf der Kulturen sei ausgeblieben, und Selbstmordattentate hätten keinen Zoll des Westjordanlandes und Gazas befreit.

In einem anderen Kommentar kritisiert die Zeitung, dass bisher niemand in der arabischen Welt ernsthaft die Frage stellt, warum Teile der arabischen Jugend die Wärme ihrer Häuser und ihre Familien verlasse und zu Terroristen werden. Dies, so das saudische Blatt, sei die größte Verfälschung des Islam. „Wo liegen die Gründe dafür, dass die Jugend, statt in Universitäten und Labors zu arbeiten oder harmloser Freizeitgestaltung nachzugehen, sich zu Extremismus und Mord hinwendet.“ Wo sei die Verantwortlichkeit der religiösen Prediger, wo die Quelle der Kultur des Extremismus, wo seien die Regierungen und die arabische Zivilgesellschaft. „Sind die Jugendlichen Opfer oder Täter, sind sie nur ein kleiner Teil der Gesellschaft oder die Basis einer Pyramide“, hakt der Kommentar nach und kritisiert, dass sich kaum jemand in der arabischen Welt die Mühe gegeben habe, diese Fragen zu beantworten.

Andere arabische Journalisten, wie der Chefredakteur der überregionalen Tageszeitung Al-Quds Al-Arabi, können dem Jahrestag durchaus Positives abgewinnen. Die arabischen Einnahmen seien durch den gestiegenen Ölpreis höher und die US-Regierung spreche das erste Mal von der Notwendigkeit eines palästinensischen Staates, führte Abdel Bari Atwaner in einer Sondersendung des Senders al-Dschasira aus. Eine optimistische Sicht, der sich auch Abdel Aziz Al-Ghantisi, der Hamas-Sprecher in Gaza in einem Interview in der saudischen Tageszeitung Asch-Scharq Al-Ausat anschließt. Die Anschläge auf das World Trade Center hätten die Moral in der arabischen Welt erhöht. Jeder sehe, dass auch die USA verwundbar sei. Das werde sich positiv auf die Region und die Palästinafrage auswirken, hofft der palästinensische Islamist.

Andere Medien nutzten die Gelegenheit des Jahrestages, die amerikanische Politik anzugreifen. Der Konflikt zwischen den USA und den militanten Islamisten werde so lange weitergehen, wie Washington fortfahre seine ganze Politik nur durch die militärische Brille zu sehen, heißt es in Al-Watan. Die Zeitung fordert „eine objektive und ausgewogene intellektuelle Debatte mit der arabischen und islamischen Welt“. Die libanesische Tageszeitung An-Nahar glaubt, dass die USA in einer kollektiven Neurose gefangen sei, mit der sie Präventivschläge rechtfertige. Nicht zuletzt im Hinblick auf einen bevorstehenden Krieg im Irak heißt es: „Zahlreiche Staaten und Menschen außerhalb der USA leben nun im Schatten wachsender Angst, dass es jederzeit vom Himmel intelligente Bomben regen könnte.“

Die kuwaitische Zeitung Rai Al-Aam veröffentlichte eine Meinungsumfrage zu Bin Laden. Darin spiegelt sich mehr als zehn Jahre nach der Befreiung des Landes im Golfkrieg wenig Dankbarkeit gegenüber den Amerikanern wider. Nur 20 Prozent der 15.000 befragten Kuwaiter wollten Bin Laden als Verbrecher bezeichnen. 74 Prozent sahen ihn dagegen als Helden. KARIM EL-GAWHARY

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