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Landnahme vor Publikum

Geburtstag eines Theatermythos: Die Berliner Schaubühne wird vierzig Jahre alt. Unser Autor denkt zurück an die wilden, die hysterischen Jahre. Close Reading und politisches Schattenboxen. It’s a rap

Die politische und die kulturelle Sphäre –für die Zeit einer Aufführung vereintDie anschauliche Rede: eine immer neu entstehende Plastik des lebendigen Worts

von HANNS ZISCHLER

Die Zeit aufblättern. Drei Jahre. 72 bis 75. Die unwirklichen Jahre. Das Plattencover von „It’s A Beautiful Day“ neben den holzhaltigen Zeitungsfotos der nach Nordkorea und Albanien aufgebrochenen „Kader“ der KPD-AO, unentmischt. Mehrfachbelichtungen. Die Niederlage der Amerikaner in Vietnam schon zu ahnen, freudig, aber nicht ohne Beklemmung. Die permanenten Nachrichten davon seltsam dünn, ein täglicher grauer Brei. Ende des Schwarzweißfernsehens. Die Amis immer auch ein Sound, der Sound, der neben Dylan (aber der war nie ein Sound, sondern eben ein Wellenbrecher, ein poet-you-know-it) schier unaufhörlich hereinflutete: The Beach Boys.

Damals lasen wir auch Carl Schmitt: Land und Meer, und damit rückte die Landnahme in ein fahles Licht. Die Beach Boys, in unserem leicht ausgefransten Denken, ein Nachhall der atlantisch-musikalischen Eroberung des alten Kontinents. Militärs sind soundvernarrt. AFN, der Sieger im Ätherkrieg. Pop nur ein Wort, taugt nicht viel, unscharfer Umriss. Und mit einem Mal rückt in den großen, verwaisten Warteraum Westberlin, in die Intensivstation mit der Bonner Herz-Lungen-Maschine eine neue Truppe ein. In die Schaubühne. Ins Haus der Arbeiterwohlfahrt am Rand von Kreuzberg, wo Schitthelm, Weiffenbach, Lange, Sturm usw. die Stellung gehalten hatten. Ausgeharrt. Ein Gerücht, eine Horde, plötzlich in der Stadt. Mit Hordenführern, pferdeschwänzig. Stein und Herrmann, und eine kleine Phalanx von martialischen oder zumindest herrisch klingenden Namen wie der König, der Hacker, die Hammer.

Kamen in die Stadt mehr her- als hinein, ausgerechnet mit (ob Kalkül oder schierer Zufall ist unerheblich, die Wirkung trat unmittelbar ein, mit allen unvorhersehbaren Nebenwirkungen): „Tasso“. Ein Geschoss, in der Bremer Theater- und Waffenmanufaktur des ehemaligen Stukafotografen Kurt Hübner entworfen, von Karsunke moralisch kalibriert, von Stein realisiert, von Ganz abgefeuert. Und Nagel inthronisierte in einem großen Essay, im Programmheft, Stein als Nachfolger des einzigen Kortner. Kulturrealpolitik. We leave earth, put helmets on. Vorher hatten sie bereits versucht, Zürich im Handstreich zu nehmen, doch diese traditionell kunst- und theaterresistente Stadt wollte nicht eingenommen werden. „Tasso“ nun in Berlin. Dieser „Tasso“ räumte ab, entlarvte, indem (er) entlarvt wurde (Goethe als Analogon zu Tasso). Szondi verschlug es die Sprache. So nicht. Nicht Goethe. Reflex auf die Störung der „Iphigenie“-Vorlesung Adornos durch goetheresistente Studenten, 69? Bleich vor Empörung stürmte er aus dem Theater. Zuwider war ihm die manichäische Geste dieses „Umgangs mit den Klassikern“.

Diese Aufführung, ein westdeutscher Import, legierte in kurzer Zeit und für eine kurze Zeit die bislang in der Weststadt getrennten Sphären des Politischen (SDS, APO und die bierernsten K- und SEW-Gruppentruppen) und des Kulturellen. Schulterschluss vor Publikum. Weil Publikum. Hatte es vorher, vor dieser Landnahme, in Berlin kein Theater gegeben? Jetzt gab es, so schrieb es einer vom andern ab, mit einem Mal eine „Theaterlandschaft“. Aus dem Nichts entstanden wie jene kleine Insel vor Island, war plötzlich ein Vorher und ein Nachher da. Über Nacht. War nicht wenige Jahre zuvor „Marat“ im Schiller Theater in die Hirne und Herzen gefahren? Und Beckett, der in der Werkstatt desselben Theaters seine Stücke einrichtete? Nicht Schnee und nicht von gestern, aber aus eben einer anderen Sphäre. Das Schiller Theater war politikresistent, war Opa im Guckkasten. Umgekrempelt wurde der Wohlfahrtskasten mit jedem neuen Stück. In „Peer Gynt“, der ersten Berliner Produktion der neuen Schaubühne, wusste man nach kurzer Zeit nicht mehr, wo vorne und hinten war, Trolle waren am Werk und behexten die Sinne.

Von einer höchst seltsamen, extrem verstiegenen Aufführung des „Geretteten Venedig“ ist mir bis heute das unfassbar tiefe Geviert eines von Pawlatschen umsäumten Innenhofs im Gedächtnis. Als wohnte man einem Fenstersturz bei. Herrmanns und Minks’ Demontagen und Faltschachtelkünste im Haus am Ufer, mit der Arche des Hochbahnhofs Möckernbrücke vis-a-vis. Wie in Trance erinnerlich der amorphe Raum, das Gelände für die „Geschichten aus dem Wienerwald“.

„Unter ungeklärten Umständen“, wie es im Schriftsatz eines Tathergangs heißen würde, stieß ich zu der Truppe. Nach kurzer Zeit war ich mittendrin. Lange Sitzungen in der Cafeteria, mit ihrer nach Süden verglasten Fassade. Fabelhafter Raum. Kneipe, Konferenzsaal, Wartesaal, ein wahrer parlor & passage room. Nüchtern, praktisch, gut dimensioniert. Unbegreiflich der Verzicht der späteren Schaubühne am Lehniner Platz auf einen solchen Versammlungsraum. Im Sommer gleißend hell, im Winter, wenn die Nacht von den wirbelnden Gedankenstrichen des Schneefalls durch die Kandelaber schraffiert wurde, ein Tagtraum, reiner, taumelnder Noktambulismus.

Fragen, nachfragen, Fragen mit Fragen beantworten, infrage stellen, hinterfragen. Doch was heute nur noch polemisch herumgereicht und verscherbelt wird, war damals ein nicht enden wollendes close reading, mir nicht unvertraut durch Jabès’ „Buch der Fragen“ und Derridas Lektüren. Das Theater und seine uneinholbaren Ursprünge, die Anthropologie vor dem Theater, der Ursprung des Theaters aus der Anthropologie, des Theaters, das jedes Mal von neuem entstand, immer ursprünglich und lächerlich, anspruchsvoll und ephemer. Learning by learning, by seeing, by listening. Der Luxus der Lese-, der Rede- und der Produktionszeit das wirkliche Wunder. Visions and revisions. Sturm, ein Meister der parataktischen Rede, ein sitzender, Tee trinkender Peripatetiker. Rausch der Nüchternheit. Die anschauliche Rede. Eine immer neu entstehende Plastik des lebendigen Worts. Gedankenflucht als Gedankengang, unerbittlich. Als müsse das Hundertfache ausgeschüttet werden, damit ein Gran davon auf fruchtbaren Boden falle.

In den Denkpausen dann das große Schattenboxen, existenziell, aber schon immer ein wenig zu laut und ein wenig zu ausgestellt: der Kampf der Fraktionen, MLer gegen Rechtsabweichler. Aufschlussreiche Klamotte. Zeitraubend und folgenlos.

In den Proben dann, den „Übungen“ – die Probe aufs Exempel machen, Sätze aus und Beobachtungen an Canettis „Masse und Macht“ wortlos entstehen lassen, eine Gang bilden, Frankfurter Vespa-Club-Halbstarke spielen, raufen, Pausenkeilerei. Anthropologie halt. Es gab noch kein Video. Gedächtnisübungen auch. Stein – zeigend, eingreifend, deutend, pointierend, invektiv, ein Blasebalg, Bildung unterm Tarnnetz seiner kalauernden, zotigen Wortschwurbel verbergend. Bressons Satz vom Filmemachen als einer militärischen Organisation galt auch hier, für ihn, in seinem Theater, und für alle, die mit ihm arbeiteten. Grüber – schweigsam, geradezu quietistisch, absorbierend, nach und mit Worten ringend, ergreifend unschlüssig und mit geheimnisvoller Hebammenkunst begabt.

Dann „Der Lohndrücker“, von Müller. Man wollte mir die Dramaturgie zutrauen. Wieder wurde gebaut, Brennöfen hochgemauert, als gälte es die volkseigene Produktionsstätte des Bestarbeiters Hans Garbe noch einmal abzubilden. Eins zu eins. Viel bei Müller gesessen. Kissingenplatz. Tagesreisen nach Ostberlin. Enter a new world. Die Hauptstadt. Verquer: in Westberlin ein Ersatztheater aufziehen, weil Müller in Ostberlin kein linkes Theater machen durfte. Garbes Welt uneinholbar entrückt. Die Transplantation missglückte, blieb rhetorisch. Heftiger Dissens mit Steckel auf den Proben, wodurch ich mir von Stein den Vorwurf mangelnder Disziplin einhandelte. Loyalität! Schluss der Diskussion. Müllers apokalyptischer Kommunismus, ein Palimpsest aus verblasster Plakatschrift, hauchdünnen, poetischen Bleistiftkritzeleien und amputierter Bonzenprosa. Schwer lesbar für Hirne aus dem westlichen Materiallager.

Der Kontakt zu Müller hielt an. Seine fast weibliche Zartheit, die zage Art seiner Berührungen. Anregende Trivialitäten wie Kaffeesatzlesen und wahre Geschichten seiner Frau Ginka von allmächtigen bulgarischen Hexen, die von den Bonzen vor schwierigen Geschäften aufgesucht wurden, perforierten die langen Abende.

Ausweitung der Bezirke. Claire Jung. Franz’ Witwe. Grübers Einladung, ihn nach Paris zu begleiten. „Faust“! Vor der Abreise in Ostberlin beim Germanisten Scholz. Alter Herr, jung geblieben. Empfehlung von Müller. Der Professor sehr skeptisch. Goethe aus materialistischer Sicht? Mit einem Koffer voller Bücher nach Paris. An trüben Novembertagen durch die steinerne, nervöse Stadt. Dramaturgie? Nicht in Sicht. Kein Gesprächspartner. Ich schmeiße hin. Abschied. Vorzeitig, ehe das Abenteuer beginnt. Am Scheideweg. Wie’s weitergeht: im Röntgenbild der Negation steht es unabweisbar und ungreifbar vor Augen. Ein herzustellendes Denkbild. Desaster, doch auch dieser Stern glost. Grüber schweigt. Enttäuscht. Wenn Einspruch, dann durch sein Schweigen.

Noch einmal zurück an die Schaubühne. Argwohn gegenüber dem Deserteur. Minks will Genet inszenieren. „Der Balkon“. Nach fünf Wochen Proben eine Ensemblesitzung. Fassungslos erfährt Minks, dass die Schauspieler ihm die Inszenierung nicht zutrauen. Blitz aus heiterem Himmel. Ich sehe mich meine Hand heben – für die Fortsetzung der Arbeit. Keine Hand sonst. Wenige Tage darauf plädiert die Hammer, von Stein angesprochen, für die Nichtverlängerung meines Vertrags. „Er gehört nicht zu uns.“ Schock der Erleichterung. It’s a rap!

Der Autor arbeitete von 1972 bis 1975 in der Dramaturgie der Schaubühne. rap=Drehschluss! (amerikanisch)

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