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Panik in der Kassenschlange

Herzrasen, Atemnot und Panikattacken aus heiterem Himmel machen Hunderttausenden das Leben zur Hölle. Ihre Krankheit bringt sie um Job und Schlaf, die Diagnose lautet schlicht: Angst. Sieben Selbsthilfegruppen bieten Rat

„Ich war immer gegen meine Angst eingestellt. Das hat sie nur größer gemacht“

Was heißt hier ängstlich? Manfred, Mitte 40, ist Fabrikarbeiter, beim Gespräch blickt er offen in die Augen seines Gegenüber. Ängstlich? Der Eindruck täuscht. Ein offizieller Brief im Briefkasten, eine fallen gelassene Tasse – „dann krieg ich Panik“, sagt er. Luft weg, Schweißausbrüche am ganzen Körper, Herzrasen, Magenweh. Manfred sagt: „Ich bin dann total verzweifelt.“

Manfred ist kein Einzelfall. Etwa ein Prozent der Bevölkerung, schätzen Experten, leiden unter „Panikstörungen“, die meisten davon jahrzehntelang. Viele trauen sich vor Angst nicht mehr aus dem Haus, können weder Straßenbahn noch Auto fahren. Jeder zweite Angstkranke kann vor Angst nicht mehr ruhig schlafen. Andere Probleme bis hin zum Verlust des Arbeitsplatzes und der sozialen Isolation sind die Folge: „Wer drei Nächte hintereinander wachgelegen hat, der ist natürlich im Arbeitsleben auch nicht funktionsfähig“, sagt Klara Roeske, Psychologin und Vorsitzende des Vereins Agoraphobie e.V., der in Bremen sieben Selbsthilfegruppen für Angstkranke und deren Angehörige betreut.

Nach wie vor ist die „Angst aus heiterem Himmel“ kaum bekannt – selbst unter Medizinern nicht. Erst 1992 wurde die „episodisch paroxysmale Angst“, wie die Panikattacken im Fachjargon heißen, als eigenständige Krankheit in das internationale Diagnoseschema aufgenommen. Auf Unverständnis stoßen die Betroffenen oft auch in ihrem engsten Umfeld. „Die Leute denken oft, man hat ’ne Scharte. Man kann ja nicht sagen: ‚Ich hab’ das und das‘“, weiß Manfred. Roeske bestätigt: „Wer so eine Attacke nicht selbst erlebt hat, versteht nicht, was in den Leuten vorgeht.“

Im Gegensatz zu Phobien, die stets einen Auslöser haben – etwa: Spinnen, enge Räume, Schlangen – und mit therapeutischer Unterstützung recht gut in den Griff zu bekommen sind, treten Panikattacken buchstäblich aus heiterem Himmel auf. Kritisch sind vor allem Situationen, in denen die Angstkranken befürchten, die Kontrolle zu verlieren. Berühmtes Beispiel, von dem fast alle Betroffenen berichten können: die Kassenschlange im Supermarkt.

Manfred war 17, als er seine erste Attacke hatte. 26 Jahre schlug er sich mehr schlecht als recht mit der Angst und verschiedenen Therapien herum, dann schickte ihn ein Nervenarzt ein halbes Jahr in Kur. Die Angst ist seither zwar nicht weg, aber, sagt Manfred: „Ich habe gelernt, damit zu leben.“ Nicht zuletzt dank der Selbsthilfegruppe.

„Viele denken, man hat ’ne Scharte. Man kann ja nicht sagen: ‚Ich hab’ das und das‘“

Fünf davon gibt es allein in Bremen-Mitte, zwei sind es in Bremen-Nord. Bedarf, ist Roeske überzeugt, gäbe es auch in den anderen Stadtteilen. Von ehrenamtlichen PsychologInnen angeleitet, bieten die regelmäßigen Treffen neben Entspannungs- und Atemübungen den Betroffenen vor allem die Möglichkeit, über ihre Ängste zu reden – und darüber, wie sie damit umgehen. „Ich war immer gegen meine Angst eingestellt. Das hat sie nur größer gemacht“, hat Manfred gelernt: „Jetzt weiß ich: So eine Attacke kann mir passieren. Allein dadurch tritt sie schon seltener auf.“ Armin Simon

Die Bremer Selbsthilfegruppen für Menschen mit Angsterkrankungen treffen sich wöchentlich. Kontakt vermittelt der Verein Agoraphobie e.V., ☎ 396 52 61 (Klara Roeske) oder ☎ 64 27 89 (Volker Kudrna). Im Treffpunkt Bremen-West, Gröpelinger Heerstr. 120, findet am Mittwoch (25.9.) um 19 Uhr ein Informationsabend für eine zehnwöchige Therapiegruppe statt. Anmeldung unter ☎ 04 21 - 61 70 79.

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