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bücher für randgruppenDer Katalog der Documenta11 ist zum Erinnerungsalbum geworden, möchte aber weiterhin eifrig belehren

Draußen vor dem Fenster treiben Eisberge

Es bricht nichts auf, es öffnet sich nichts. Alles ist an seinem Platz, und es gibt nichts zu lachen. Das war die Documenta11. Übrig bleibt ein blauer Katalog. Zu schwer, um ihn durch die Ausstellung zu tragen. Aber dafür ist er ja auch nicht gedacht. Jetzt ruht er hier auf dem Schreibtisch.

Es war eigenartig, wie Ausstellungsmacher Okwui Enwezor als neu verkaufen wollte, was schon längst formuliert war. Doch seitdem alle wissen, dass ein Urinoir durch einen klaren, geistreichen Gedanken zum Kunstwerk werden kann, kann es natürlich ebenso eine Kunst sein, Ähnliches, Gleiches und Bekanntes durch Sprache und Theorie zu Unbekanntem zu verreden. Der Kunstkritiker Bazon Brock nannte die Documenta11 treffend eine einzige Phrasenproduktionsmaschine, die das Hundsnormalste tut, aber eben in pseudoanspruchsvoll begründeten Zusammenhängen vorführt.

Der Katalog ist nun Erinnerungsalbum, von den unzähligen Videos bleiben Videostills auf schwarzem Grund, Seite 354: schön, das traditionelle Handwerk der grönländischen Inuit zu sehen. Wie sie ein Loch ins Eis bohren, den Seehund erlegen, zerlegen, dabei lachen und in einer selten gesprochenen Sprache sprechen. Die Bildschirme, auf denen die Videos der Gruppe Igloolik Isuma Productions auf der Documenta11 liefen, sind wahrscheinlich ein Globalisierungsprodukt. Videodokumentationen von Grönland bis Südamerika, die Welt dreht.

Mir ist vor sechs Jahren bei einer Reise nach Narsaq in Grönland ein Fernseher in der Technobar „Ini“ im Gedächtnis geblieben: Im Bild liefen eiskalte Geschäftsleute mit Aktenkoffern in Bürohochhäusern herum, schmiedeten Intrigen mit blond toupierten Miezen gegen ihre Konkurrenten. Eine amerikanische B-Serie, die aber mit ultralangen grönländischen Wörtern untertitelt war.

Die Kombination dieser Wörter mit den Großstadtmenschen war höchst eigenartig. Und neben dem Video konnte man durch das Fenster des Technoclubs riesige Eisberge im Meer treiben sehen, ganz ruhig und dreimal so groß wie die größten Häuser von Narsaq. Ein scheinbar völlig absurdes Zusammentreffen. Ergebnis der vernetzten Welt oder postkolonialer Blick?

Vor zehn Jahren gründete der Musiker David Bowie zwecks Vermarktung seiner Musik eine eigene Aktiengesellschaft. Die Künstlerin Maria Eichhorn zeigte nun im Kunstkontext, dass man auch ohne Produkt, hauptsächlich mit Geld und einem Willen ausgestattet, eine Aktiengesellschaft gründen kann. In ihrem Ausstellungsraum waren die einzelnen Belege dieses Prozesses dokumentiert, die Schriftstücke, das Startgeld der Gesellschaft, 50.000 Euro hinter Glas und Enwezors Unterschrift unter der Gründungsurkunde. Das Ganze wirkt wie eine Karikatur westlicher Kunst. Musik liegt in der Luft und Spiritualität in den Geldscheinen.

Aber ist das nicht alles längst klar? Im Katalogbeitrag bleibt nun eine belehrende Exkursion über den Geldwertbegriff und die ökonomischen Prozesse mit politischem Anspruch. Wir befinden uns irgendwie in einem modernen protestantischen Gottesdienst. Die Ureinwohner beim Robbenfang, und die Westwelt spekuliert mit und an der Börse.

Vielleicht springe ich dann abschließend lieber in die Besucherservice-Schrottkarre von Thomas Hirschhorn und lasse mich in sein Bataille-Monument in Kassels Werksquartier bringen. Tatsächlich scheint Thomas Hirschhorn am ehesten die Offenheit, die Sinnlichkeit, die Subversion, die Ironie und den Widerstand aufzubringen, die in der Documenta11 nur äußerst selten spürbar waren und so dringend fehlen. Wenn doch nur der Katalog einen so schönen Einband hätte wie Hirschhorns Pappbutzen.

WOLFGANG MÜLLER

„Documenta11_Plattform 5. Ausstellung. Katalog“. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2002, 620 S., 55 €

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