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„Weil du mein Schicksal bist“

Wulf und Holm Kirsten haben ein einzigartiges Lesebuch zur Geschichte des KZ Buchenwald herausgegeben

Manch einer hat sich in seine Versionen verbissen, sie sind seine Wahrheit geworden

Im April 1945, als das Konzentrationslager Buchenwald von innen heraus und von außen befreit wurde, vegetierten dort noch etwa 21.000 Häftlinge, nachdem weitere 28.000 von der SS auf den Todesmarsch geschickt worden waren. Steht man in dem ehemaligen Lagergelände, so ist es kaum vorstellbar, dass hier, in dieser idyllisch unwirtlichen Gegend, die Bevölkerung einer mittleren Kleinstadt von 1937 bis 1945, auf engstem Lagerraum verwaltet, organisiert und brutal gequält wurde.

Neben zahllosen historischen Publikationen zur Geschichte des KZ Buchenwald existiert in den Regalen und Archiven eine Fülle von Zeitzeugenliteratur: Häftlingsberichte, die bald nach der Befreiung auf Aufforderung der Häftlingsverbände entstanden sind, zeitgleich mit dem Standardwerk des ehemaligen Häftlings Eugen Kogon über den SS-Staat (1946). Mehr als ein halbes Jahrhundert ist seitdem vergangen, während dem hunderte von Buchenwaldhäftlingen ihre Erlebnisse aufschrieben. Häftlinge, die ihre Leidensgeschichte artikulieren wollten und konnten. Wer liest die Bücher, kennt die Namen? Das reicht von Siegfried Oppenheim, einst Dorfschullehrer in Rhina: „Meine Erlebnisse am 10. November 1938 und mein Aufenthalt in Buchenwald bis zu meiner Rückkehr am 14. Dezember 1938 nach Bad Nauheim“, aufgeschrieben 1939 in Haifa, bis zu Ernst Wiecherts „Der Totenwald“ (1947).

Hinzu kamen im Lauf der Jahre Zeitzeugeninterviews und romanhafte oder literarische Bearbeitungen der Hafterlebnisse, von Bruno Apitz’ 1958 erschienenem späterem Welterfolg „Nackt unter Wölfen“ bis zu den in den Achtziger- und Neunzigerjahren übersetzten autobiografischen Romanen eines Jorge Semprún oder Imre Kertész.

Aus diesem Fundus schöpft eine ungewöhnliche Neuerscheinung: „Stimmen aus Buchenwald. Ein Lesebuch“, das der Weimarer Lyriker Wulf Kirsten und sein Sohn Holm Kirsten, der als Historiker an der Gedenkstätte arbeitet, zusammengestellt und herausgegeben haben.

Die Idee zum Buch ist einleuchtend: Wulf Kirsten hatte im Lauf der Zeit mehr als 200 Berichte gesammelt über den Schandfleck nördlich der Stadt Weimar, die sich seit jeher gern ihres „humanistischen Erbes“ rühmt. Viele von denen waren vergriffen, meist aus politischen Gründen nicht wieder aufgelegt worden oder bis heute unveröffentlicht geblieben. 61 Texte, die unterschiedlicher nicht sein könnten, hat er nun ausgewählt (ohne die literarische Meßlatte anzulegen) und in einem Band versammelt. Darunter auch einige zum ersten Mal von Kirsten übersetzte Gedichte aus der 1946 in Paris erschienenen „Anthologie des poèmes de Buchenwald“ .

Außer einigen Gedichten und Zeichnungen enthält der Band Ausschnitte aus längeren oder kürzeren Prosatexten. Da gibt es den erschütternden Bericht von Bruno Apitz über „Das Kleine Lager“ (1945) neben einem makaber-komischen Text von Eugene Heimler über literarische Streitgespräche beim Warten auf die Selektion. Judith Magyar Isaacson schildert, wie halb verhungerte Ungarinnen im Außenlager Hessisch-Lichtenau mit Kriegsgefangenen flirten und, während sie eine Woche in einem verriegelten Waggon sitzen, exquisite Kochrezepte austauschen. Der Wiener Psychoanalytiker Ernst Federn berichtet in „Eros hinter Stacheldraht“ über Verwicklungen, die sich durch sexuelle Beziehungen ergaben, und das Strichjungendasein im Lager. In einer skurrilen Geschichte von Carl Laszlo erfährt man, dass er sich für ein Stück Brot als Astrologe eines SS- Offiziers betätigte. Bruno Heilig schildert, wie auf Befehl eines SS- Obersturmbannführers von dem Librettisten Löhner-Beda (Was machst du mit dem Knie, lieber Hans?) und dem Musiker Leopoldi das Buchenwaldlied verfasst wurde: „O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen, Weil du mein Schicksal bist“.

Worum geht es den Herausgebern? „In diesem ereignischronologisch angelegten Mosaik aus Augenzeugentexten, sei es in Berichten, Autobiografien, Romanen, Gedichten, die zu einem Bericht zu verschmelzen trachten, (wurden) Näherungen an die Wahrheit gesucht, an eine, die sich aus vielen individuellen Wahrheiten zusammensetzt“, schreibt Kirsten im Vorwort . Es geht sowohl um eine Annäherung an die Wahrheit wie auch um bzw. gegen „verabsolutierende Heldenlegenden“, wie er an anderer Stelle sagt: „Zu der Wahrheit über Buchenwald gehört auch, dass sich manch einer in seine Versionen so hineingelebt und verbissen hat, dass sie zu seiner Wahrheit geworden sind, so empfindlich dies auch im Kontrast steht zu historisch erwiesenen Fakten.“ Auswahlkriterium war die Vielfalt der Nationalitäten, der Häftlingsgruppen, der Erfahrungen vor Ort, mit dem Ziel, ein Gesamtbild des Lagers zu erhalten. Ein authentisches Lesebuch.

In sorgfältig recherchierten Kurzbiografien und Anmerkungen zu den Texten spiegeln sich die gebrochenen Biografien der Autoren und wenigen Autorinnen. Nur bei einem Namen – Maurice Beaufrère – steht der Satz: Über diesen Autor waren keinerlei Lebensdaten zu ermitteln. Sein Gedicht trägt den Titel „Es qualmt“ und entstand im Dezember 1944.

RENATE CHOTJEWITZ-HÄFNER

Holm Kirsten u. Wulf Kirsten (Hg.): „Stimmen aus Buchenwald. Ein Lesebuch“, 336 Seiten, Wallstein Verlag, Göttingen,2002, 15 €

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