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DIE AUFERSTEHUNG DER ALTEN SOZIALDEMOKRATIE IN NEUEN FLOSKELNDas rot-grüne Leuchten

Regierungserklärungen stellen in aller Regel keine stilistischen Meisterstücke dar. Gleichwohl dürfte der Text, den Gerhard Schröder am Dienstag im Bundestag vorgetragen hat, als ein Tiefpunkt politischer Rhetorik in die Geschichte eingehen. Schon wegen einer geradezu zwanghaften Marotte, vor alles und vor jedes Subjekt die ebenso unschuldigen wie nichts sagenden Wörtlein „neu“ und „wirklich“ zu setzen. Wir hörten etwa von „neuer Gerechtigkeit“, „neuer Selbstverantwortung“, „einem wirklich kinderfreundlichen Land“ und „neuer unternehmerischer Verantwortung“. Und fragen uns irritiert: Wie sah eigentlich die alte Gerechtigkeit aus, die falsche Kinderfreundlichkeit, der alte Gemeinsinn, die alte Wirtschaftskraft, die alte Sicherheit, die alte Selbstverantwortung und die alte unternehmerische Verantwortung? Und wundern uns weiter, ob wir uns noch im Zeitalter des Alten befinden und auch diese Koalition in den vier vergangenen Jahren nicht nur im zeitlichen Sinn in der Vergangenheit gelebt hat?

Es wirkt gespenstisch, wenn Leute von gestern emphatisch eine Politik von morgen verkünden. Wer jetzt als mildernden Umstand einfließen lassen wollte, dass eben der Wähler die Leute von morgen zu der Zeit, als sie diese Option noch persönlich halbwegs glaubwürdig verkörperten, von den Schalthebeln der Macht fern hielt, müsste sich an den altgedienten, als Mafioso erkannten italienischen Premier Giulio Andreotti erinnern, der als Schüler Machiavellis erkannt hatte: Die Macht korrumpiert vor allem jene, die sie nicht besitzen. Es geht in diesem Fall jedoch nicht um Korruptheit im Sinne persönlicher Käuflichkeit, sondern um eine grundlegende Mutlosigkeit der 1998 an die Macht Gekommenen: Sie standen ja nicht einmal zu den alten eigenen Konzepten und experimentierten in den letzten vier Jahren lieber erfolglos mit neoliberalen Ideen à la Tony Blair herum.

Dabei ist nicht zu übersehen, dass die rot-grüne Regierung einen im besten Sinne restaurativen Kurs fährt und sich trotz gegenteiliger Rhetorik wieder um einen starken sozialdemokratischen Staat bemüht. Insofern besteht das hier so matt beschworene „Neue“ in Wahrheit für das durchaus erfolgreiche Alte, für die nach wie vor nicht überholte sozialdemokratische Idee, die wohl als einzige das desaströse zwanzigste Jahrhundert einigermaßen unbeschadet überstanden hat und daher über alle Potenziale verfügt, auch das einundzwanzigste zu formen. Jawohl, zu formen – und nicht, wie der zivilgesellschaftliche Jargon so abgeschmackt wie unscharf will: zu „gestalten“.

Diese Regierung besiegelt zugleich eine historische Versöhnung. Was in der Endphase des Kalten Krieges an der Nachrüstungsfrage zerbrach, nämlich die Einheit einer im weitesten Sinne sozialdemokratischen Linken, ist wiederhergestellt.

Diese Grünen sind nämlich kaum etwas anderes als eine zweite, eben etwas liberalere sozialdemokratische Partei, und ihre Neoliberalen sind dort, wo sie hingehören: in bedeutungslosen Regierungsämtern oder auf dem freien Markt. Man muss sich die letzten Sätze der Regierungserklärung, die sich wie die Echternacher Springprozession vom Gespinst der Zivilgesellschaft ebenso hinkend verabschiedet wie vom moderierenden Staat, auf der Zunge zergehen lassen: „Deshalb brauchen wir weniger Bürokratie und weniger Obrigkeitsdenken – aber nicht weniger Staat.“ Dass der Kanzler im unmittelbar folgenden Satz wie Guido Westerwelle gegen den bevormundenden Wohlfahrtsstaat wettert, wollen wir ihm als Ausdruck eines schmerzlichen Abschieds vom neoliberalen Zeitgeist nachsehen. Nicht hoch genug geschätzt werden kann indes das Schlussbekenntnis der Erklärung, das wir als Versprechen verstehen: „Wir werden, wo immer es geht, den Konsens mit den volkswirtschaftlichen Akteuren, den Bürgern und den gesellschaftlichen Gruppen suchen. Aber wir lassen nicht rütteln am Primat der Politik.“

Regieren, das kann auch Lernprozesse befördern, und es ist wohl möglich, dass der Kanzler der Bosse sich angesichts der wachsenden Arbeitslosigkeit dessen erinnert hat, was er als Nichtrevisionist in den Theoriezirkeln der Jusos mal gehört haben dürfte: dass nämlich Kapitalisten „Charaktermasken“ sind, die – ob sie es wollen oder nicht – Interessen durchsetzen müssen, die jedenfalls nicht die des gemeinen Wohls sind. So schimmert hinter der abgegeriffenen Renaissancerhetorik dieser Erklärung die Wiederauferstehung der deutschen Sozialdemokratie hervor. Ob es sich dabei um mehr als ein grünes Leuchten handelt? MICHA BRUMLIK

Der Autor leitet das Fritz-Bauer-Institut und lehrt Erziehungswissenschaften an der Universität in Frankfurt am Main.

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