: „Wir können von Deutschland lernen“
Chinesische Pädagogen auf Stippvisite bei den Erfindern des Kindergartens: Die Angereisten sind begeistert. Dabei steht die Erzieher-Ausbildung in Bremen gerade mal wieder in der Kritik. Experten vermissen die Bildung, in den ersten Lebensjahren ginge es nur um „Pflege, Fütterung und Töpfchen“
Blitzlichtgewitter. Die Videokamera ist eingeschaltet. Lara, gerade vier geworden, hält ihre Puppe hoch. „Die heißt Natascha“, sagt sie. Die Fotografen sind begeistert. „Zuhause hab ich auch eine Barbie.“ Noch mehr Fotos.
Lara besucht den Offenen Kindergarten im Krögersweg in Borgfeld. Die, die fotografieren, sind Teil einer siebenköpfigen Studiengruppe für Frühpädagogik aus Shanghai in China. Fünf Leiterinnen von Kindergärten und zwei Beamte des öffentlichen Dienstes sind auf Einladung der CSU-nahen Hans-Seidel-Stiftung und im Auftrag des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit für eine Woche in Bremen. Sie besuchen Kindergärten, reden mit Pädagogen, tauschen Erfahrungen aus. Vor allem Einrichtung und Ausstattung werden begutachtet, Puppenhäuser und Bauklötze fotografiert.
Das chinesische Interesse an frühkindlicher Pädagogik ist so alt noch nicht. „Vor 15 Jahren ging es in unseren Einrichtungen nur um die Vermittlung von Wissen. Doch neuerdings stehen Freiwilligkeit, Offenheit und ein kinderorientierter Umgang im Vordergrund“, berichtet Jujue Chen, stellvertretende Leiterin eines Erziehungsamtes.
Das offene Konzept in Borgfeld, in dem die Kinder weniger an Gruppen als an Angeboten orientiert sind, ist den Chinesinnen nicht neu. Doch Unterschiede gibt es auch. „Normal sind 500 bis 600 Kinder in einer Einrichtung“, sagt Chen. „Aber die Gruppen sind höchstens 25 Kinder stark“, und würden von drei ErzieherInnen, davon mindestens zwei an der Fachhochschule ausgebildeten, betreut werden.
„Wir überlegen, die ErzieherInnenausbildung in die Universität zu bringen“, sagt Chen. Doch schon jetzt sind die Kräfte in puncto Ansehen und Besoldung LehrerInnen gleichgestellt. Besonders seit der Ein-Kind-Regelung stünden moderne, kindorientierte Konzepte, aber auch intensive Elternarbeit hoch im Kurs.
Von der hiesigen Pädagogik hält sie viel. „Wir können von Deutschland lernen“, meint Chen. Ilse Wehrmann, Abteilungsleiterin des Landesverbandes Evangelischer Tageseinrichtungen und vor kurzem selbst in Shanghai zu Besuch, ergänzt: „Als Erfinder des Kindergartens sind die Deutschen in China hoch angesehen.“ Und so macht die Delegation freundliche Gesichter, stößt vielstimmig „ooh“ aus, als sie Wasch- oder Bauraum betritt und lässt sich auch nicht stören, als sich ein kleiner Junge durch die Gruppe kämpft und sagt: „Ist das ein Gewusel hier!“
Es ist eine seltsame Welt: Während die Chinesen nach Bremen kommen, um vom hiesigen Kindergartensystem zu lernen, steht die frühkindliche Erziehung hier derzeit hart in der Kritik. „In den ersten drei Lebensjahren“, sagt Norbert Hocke, „geht es bei uns nur um Pflege, Fütterung und Töpfchen. Der Bildungsaspekt steht hinten an.“ Hocke weiß, wovon er spricht. Der stellvertretende GEW-Vorsitzende ist Erzieher, Sozialarbeiter und Diplompädagoge. „Und das, obwohl wir heute wissen, dass gerade die ersten Jahre für die Ausbildung des Gehirns die wichtigsten sind.“
Auf Einladung der Grünen Bürgerschaftsabgeordneten Anja Stahmann hatten in der vergangenen Woche 35 Bremer ErzieherInnen, FachschullehrerInnen und SozialpädagogInnen über die ErzieherInnenausbildung gesprochen.
Das ernüchternde Fazit: Die Qualität der Ausbildung ist ebenso schwach wie das Bildungsniveau der BerufsanfängerInnen. Längst komme der Beruf der Erzieherin fast nur noch für RealschulabgängerInnen mit einem Notendurchschnitt in Frage, mit dem ihnen Karrieren im IT-Bereich, bei Verwaltung oder Polizei verwehrt blieben. Waren es vor 15 Jahren noch 40 Prozent AbiturientInnen, die sich zur ErzieherIn ausbilden ließen, sind es heute nicht mal 20 Prozent. Die Gründe liegen für Hocke auf der Hand: Es gibt zu wenig Lohn und im ganzen Berufsleben nur eine Aufstiegsmöglichkeit – die zur Gruppenleiterin. Ergo, so Hocke: „Der Beruf der Erzieherin ist eine Sackgasse“.
Auch die Ausbildung selbst kritisiert der Bildungsexperte. „Die Fachschulen werden alleine gelassen.“ Wo es die meisten Chancen gebe, Bildung zu gestalten, „setzen wir das billigste oder mit den Tagesmüttern sogar unausgebildetes Personal ein.“
Ein Weg aus der Misere wäre die Anhebung der Ausbildung auf Fachhochschul-Niveau und gleichwertige Bezahlung. In acht Semestern Studium sollten sich die Pädagogen zur Krippen- oder JugendarbeiterIn spezialisieren. Berlin praktiziert bereits ein ähnliches Modell. In Bremen ist diese Reform jedoch nicht in Sicht.
Dabei könnte dieses Modell ErzieherInnen auch den Weg zur Grundschul-Karriere öffnen. Hocke würde das begrüßen: „Das Berufsbild würde endlich einen adäquaten Sozialstatus und eine höhere Attraktivität erhalten.“ Qualifizierte Erzieherinnen können, so Hocke, auch in der Krippenphase die ein- bis dreijährigen Kinder besser fördern als zwischen Haushalt und Job gestresste Mütter.
Ole Rosenbohm
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