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Das kleinere Übel

Am 19. November 1932 verlangte eine Gruppe von Unternehmern die Ernennung Hitlers zum Regierungschef. Damit war der Mythos geboren, das Großkapital habe die Nazis zur Macht befördert

von RALPH BOLLMANN

Der Name des Politikers kam im ganzen Text kein einziges Mal vor, aber die Botschaft war eindeutig genug. Dem „Führer der größten nationalen Gruppe“ müsse endlich die „verantwortliche Leitung“ der Regierungsgeschäfte übergeben werden, forderten die Unterzeichner in ihrer Eingabe an Reichspräsident Paul von Hindenburg. Nur ein solches Kabinett könne die „größtmögliche Volkskraft“ hinter sich bringen.

Nichts als die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler forderte jene „Eingabe“, die der Berliner Bankier Friedrich Reinhart vor siebzig Jahren dem Leiter des Präsidentenbüros überreichte. Kurzfristig blieb das Schreiben vom 19. November 1932 folgenlos, weil Hindenburg eine Kanzlerschaft Hitlers noch strikt ablehnte. Langfristig aber begründete es – wenn auch unbeabsichtigt – den Mythos, das Großkapital habe beim Aufstieg Hitlers die ausschlaggebende Rolle gespielt.

Denn keineswegs stand „die“ deutsche Wirtschaft hinter dem Anliegen der Eingabe. Sie wurde von keinem Großkapitalisten unterschrieben – mit Ausnahme Fritz Thyssens, der freilich seit 1930 als notorischer Nazisympathisant unter seinesgleichen politisch isoliert war. Trotz intensiver Bemühungen fanden sich nur neunzehn Unterzeichner bereit, den Wunsch zu unterstützen, darunter fünf Vertreter der Landwirtschaft und mehrere Inhaber kleinerer Unternehmen. Prominentester Unterstützer war Hjalmar Schacht, der aber just zu diesem Zeitpunkt nicht als Reichsbankpräsident amtierte.

Die Großunternehmer hatten im Gegenteil allen Grund, vom antikapitalistischen Programm der NSDAP beunruhigt zu sein. Warum hätten sie ausgerechnet eine Partei ins Herz schließen sollen, die den „Sozialismus“ im Namen führte – wenn auch in seiner „nationalen“ Variante? Weshalb sollten Großbanken eine Bewegung unterstützen, die für eine „Befreiung von der Zinsknechtschaft“ plädierte? Und aus welchem Grund sollten exportabhängige Konzerne eine Regierung an die Macht bringen, die ein Programm wirtschaftlicher Autarkie verfocht?

In ihrer Mehrheit betrachteten die Wirtschaftskapitäne die NSDAP als eine Partei, die sie zwar ablehnten, die aber unter bestimmten Bedingungen als das kleinere Übel gelten konnte – ganz so, als handele es sich dabei um eine so harmlose Formation wie Gerhard Schröders SPD. Die Bedrohung, die von den Nationalsozialisten für ein zivilisiertes Lebens ausging, übersahen sie gänzlich. „Die kapitalistischen Kreise“, beschrieb der Ökonom Joseph Schumpeter dieses Phänomen, „verhalten sich gegenüber der Politik ihrer Nationen eher anpassend als verursachend.“

Selbst bei jenen Teile der Großindustrie, die in der nationalsozialistischen Bewegung einen potenziellen Verbündeten im Kampf gegen die kommunistische wie sozialdemokratische Linke sahen, hatte sich die Sympathie im Herbst 1932 bereits merklich abgekühlt. Dazu trug auch der Umstand bei, dass Hitlers Partei bei den Reichstagswahlen Anfang November einen empfindlichen Rückschlag erlitten hatte.

Weit mehr als die Großkapitalisten neigten die Inhaber kleiner und mittlerer Betriebe den Nationalsozialisten zu. Die rezessionsgeplagten und daher hoch verschuldeten Kleinunternehmer hofften, unter einem Reichskanzler Hitler würden sie der drückenden Zinslast ihrer Kredite entgehen; die kleinen Kaufleute glaubten, die NSDAP werde die Konkurrenz der in jüdischem Besitz befindlichen Großwarenhäuser ausschalten. Der Soziologe Theodor Geiger erkannte eine „Panik im Mittelstand“, der sich zwischen marxistischer Arbeiterschaft und angeblich jüdischem Großkapital eingeklemmt wähnte. Während Konzerne im Zweifel vom Staat gestützt wurden, brachen kleinere Firmen gleich reihenweise zusammen.

Es waren jedoch die Hoffnungen der eifrigsten Anhänger, die Hitler nach seinem Regierungsantritt am stärksten enttäuschte. Die großen Warenhäuser beispielsweise wurden nicht etwa geschlossen, sondern unter neuer Leitung weitergeführt. Mit lauter Krämern, die drei Schrauben am Tag verkauften, war der geplante „Rassenkrieg“ eben nicht zu führen.

Dankbarkeit gegenüber treuen Anhängern war für Hitler in diesem Zusammenhang keine politisch erfolgversprechende Kategorie – im Gegenteil: Um die Versorgung der (meist noch immer) marxistisch inspirierten Arbeiterschaft war Hitler besonders besorgt, weil er in dieser einen Unruheherd sah.

Die Erkenntnis, dass Großbetriebe einfach effizienter arbeiten konnten, gab die wirtschaftspolitische Richtung vor. Aber auch für die Konzerne währte die ungeteilte Freude an der neuen Rüstungskonjunktur nur kurz. Im Laufe der Zeit litten auch sie immer mehr unter den Mangelerscheinungen und dirigistischen Eingriffen, die das NS-Wirtschaftssystem produzierte. Das nationalsozialistische Regime hatte mit Problemen zu kämpfen, die später den sozialistischen Staaten ebenfalls zu schaffen machten. War ein sich selbst regelndes System erst einmal aus dem Gleichgewicht gebracht, wurden immer neue Eingriffe nötig, wie der Berliner Historiker Ludolf Herbst schreibt: „Jede Anordnung zog, weil sie in komplexe Lebenszusammenhänge eingriff, weitere Anordnungen nach sich.“

Die höhere Quantität staatlicher Eingriffe schlug 1936/37 schließlich in eine neue Qualität der Wirtschaftslenkung um. Der zweite Vierjahresplan ordnete die unternehmerischen Spielräume endgültig der ökonomischen Kriegsvorbereitung unter, und Hjalmar Schachts Rücktritt als Wirtschaftsminister zeigte den schwindenden Einfluss auch jener Wirtschaftskreise, die besonders eng mit den Nationalsozialisten verbunden waren.

Im Zweiten Weltkrieg verringerte sich der Handlungsspielraum der Konzerne weiter, und ein ausgefeiltes System staatlicher Preiskontrolle schöpfte etwaige Profite sofort ab. Das galt auch für den Einsatz der Zwangsarbeiter. Wie die Tübinger Historikerin Cornelia Rauh-Kühne erst kürzlich nachgewiesen hat, profitierten die Unternehmer von den „Fremdarbeitern“ weit weniger als bislang angenommen. Der kriegsbedingte Ausfall von Arbeitskräften, der durch die Zwangsarbeiter mehr schlecht als recht ausgeglichen wurde, führte bei den Unternehmen sogar zu hohen Einbußen – zumal sie für den Einsatz der körperlich geschwächten und naturgemäß wenig motivierten Arbeitskräfte hohe Summen an den Staat zu zahlen hatten.

Gerade der Umstand, dass sich die Konzerne selbst als Opfer der Kriegswirtschaft verstanden, trug jedoch zur Senkung moralischer Hemmschwellen bei der Beschäftigung von Zwangsarbeitern bei. Welche politischen Präferenzen die einzelnen Großindustriellen am Vorabend des „Dritten Reiches“ auch gehabt haben mögen – eine Erfahrung hatten sie mit dem Nationalsozialismus gemacht: die Erfahrung, dass sie mit einem demokratischen Staat und einer liberalen Wirtschaftsordnung am Ende doch besser fuhren als mit einem System diktatorischer Steuerung.

Zwar konnte es phasenweise mit den Interessen der Konzerne konform gehen, langfristig aber blockierte es jede unternehmerische Initiative. Die Kriegszerstörungen, die Enteigungen in der sowjetischen Besatzungszone und der Verlust der Betriebe in den Ostgebieten trugen das Ihre zu diesem Lerneffekt bei.

Dass es überhaupt zur Machtübertragung an die Nationalsozialisten kam, war allerdings nicht in erster Linie die Schuld der Unternehmer. „Nur mit großen Verzerrungen“, glaubt der Yale-Historiker Henry A. Turner, könne der Wirtschaft die Hauptrolle bei Hitlers Aufstieg zugeschrieben werden. Im entscheidenden Moment war es gerade nicht die Wirtschaft, die über den Gang der Politik bestimmte. Entscheidend waren die Wählerstimmen – und die Nähe zum politischen Machtzentrum, also der direkte Zugang zum Reichspräsidenten. Auf diese beiden Pole konzentrierte sich Hitler, als seine Bemühungen um die Wirtschaftseliten nicht das gewünschte Resultat brachten. Auch er hatte erkannt, was heutzutage jedes Wahlkampfteam predigt: „It’s not the economy, stupid!“

Es waren die „kleinen Leute“, die mit ihren Wählerstimmen die Machtbasis der Nationalsozialisten begründeten. Sie kamen, wie der Wahlforscher Jürgen Falter gezeigt hat, keineswegs nur aus dem alten und neuen Mittelstand der Selbstständigen und Angestellten – sondern zu beträchtlichen Teilen aus der Arbeiterschaft. Den Zugang zum greisen Reichspräsidenten verschafften den Nationalsozialisten allerdings erst die vorkapitalistischen Machteliten Ostelbiens.

Als die Kamarilla um den Präsidenten ihre Entscheidung getroffen hatte, am 30. Januar 1933, erreichte sie, was die halbherzige Eingabe weniger Unternehmer Wochen zuvor nicht vermocht hatte: den Rittergutsbesitzer Hindenburg davon zu überzeugen, den „böhmischen Gefreiten“ Adolf Hitler zum Reichskanzler ernennen zu müssen.

RALPH BOLLMANN, 33, studierte Geschichte in Tübingen, Bologna und Berlin und leitet seit Mitte Oktober das Inlandsressort der taz

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