piwik no script img

BürgerInnen, ins Parlament!

Vielleicht haben wir eine schlechte Regierung. Aber das ist noch lange kein Grund, die gefährlichen Klischees des typisch deutschen Antiparteien-Affektes wieder zu beleben

Der kämpferische Gestus der „Betrogenen“ ist absurd angesichts des Wohlstands der „Generation Golf“

Donnerwetter. Deutschland steht kurz vor einer Revolution. Steuern werden nicht mehr gezahlt, Finanzämter gestürmt. Um die rot-grüne Regierung zu vertreiben, sammeln sich hunderttausende in Berlin vor dem Kanzleramt, darunter auffallend viele gut gekleidete Bürger. An vielen Orten versammelt sich ein wütender Mob der 20- bis 40-Jährigen vor Altenheimen und Kegelbahnen und zwingt die Rentner zu gemeinnütziger Arbeit; Flüge nach Mallorca sind bis auf weiteres eingestellt. Doch bald macht sich Unsicherheit breit, und die Aufständischen liegen im Streit: Was wollte diese Revolution eigentlich erreichen?

So oder ähnlich müsste es aussehen, nähme man das Rauschen im intellektuellen Blätterwald ernst, das sich in den letzten zwei Wochen zu einem veritablen Sturm ausgewachsen hat. Der Aufruf Arnulf Barings in der FAZ: „Bürger, auf die Barrikaden!“, hat diese Stimmung, die sich seit dem 22. September aufgebaut hat, gebündelt und zugespitzt. Ein Kleingeist und Miesepeter, wer sich jetzt nicht mitgerissen fühlt, den Reformstau als Staatskrise zu begreifen und im Barrikadensturm das alte politische System auszuhebeln.

Wer wollte bestreiten, dass sich in diesem Land endlich etwas bewegen muss, wer wollte die SPD verteidigen, die alles falsch macht, was man nur falsch machen kann? Aber die inszenierte Revolution der gekränkten Bürger ist noch lange nicht die richtige Antwort. Der Proteststurm, der uns im Moment vorgeführt wird, will sich auf die Geschichte berufen – auf 1848 und Brüning und 1989 – und verheddert sich nur in ihr. Aber es geht um mehr: um ein waghalsiges Spiel mit der demokratischen politischen Kultur unter dem Mäntelchen des demokratischen Bürgerzorns. Dazu sind einige Klarstellungen angebracht.

Erstens: Vielleicht haben wir eine schlechte Regierung. Aber das ist noch lange kein Grund, die ältesten Klischees der intellektuellen Politikerschelte, des typisch deutschen Anti-Parteien- und Anti-Parlamentarismus- Affektes aus vordemokratischen Zeiten wieder zu beleben. Nichts anderes aber tut Baring. Die meisten Parlamentarier kommen aus dem öffentlichen Dienst, aus staatsnahen Berufen? Mit solchen Vorwürfen ist schon 1848 die Frankfurter Paulskirche, das erste demokratische Parlament für ganz Deutschland, der Lächerlichkeit preisgegeben worden. Unser Parteiensystem ist den Herausforderungen in keiner Farbkombination gewachsen? Dann brauchen wir vielleicht eine Regierung jenseits der Parteien. Das war ja den autoritäts- und harmoniesüchtigen Deutschen schon immer die liebste Lösung, nicht zuletzt in der Krise der Weimarer Republik. Es sieht schlecht aus mit dem Führungsnachwuchs der demokratischen Parteien? Ein uralter Topos, der durch ständige Wiederholung nicht wahrer wird. Politiker wie Sigmar Gabriel (SPD), Roland Koch (CDU) oder Matthias Berninger (Grüne) sind um keinen Deut schlechter als die nachträglich allzu sehr verklärten Altvordern. So leichtfertig sollte man Parteien und Parlament nicht in Frage stellen.

Zweitens: Sind wir wirklich inmitten nicht nur einer Regierungs-, sondern einer ernsthaften Verfassungskrise? Dieser Eindruck wird jetzt gerne erweckt, so als verlören die demokratischen Institutionen und das Grundgesetz ihre Geltung in der Bevölkerung. Ein solcher Legitimationsverlust des alten Systems bildete schließlich immer schon die Voraussetzung für Revolutionen. Tatsache ist: Manche Verfassungsregularien von 1949 müssten endlich reformiert werden, weil sie seit Jahrzehnten – nicht erst seit acht Wochen – die politische Blockade befördern. Dazu gehört vor allem das Verhältnis von Bund und Ländern, das derzeit dem Bund ebenso Fesseln anlegt, wie es Wettbewerb und Eigenverantwortung der Länder verhindert. Man kann auch den – gleichfalls viel älteren – Trend des Regierens über Kommissionen kritisieren, aber was ist dann die Alternative außer einer Rückverlagerung solcher Debatten ins Parlament? Denn wer zweifelt auch nur eine Sekunde an der Stabilität der parlamentarischen Demokratie? Flinke Revolutionsherbeischreiber wie Baring verwechseln – man muss befürchten: in voller Absicht – die Loyalität zu einer bestimmten Regierung mit der Loyalität zum System. Doch anders als in Weimar gibt es keine „emotionale Distanz der Bevölkerung zur Republik“. Wenn manche Intellektuelle glauben, eine Distanz zur Republik wieder verspüren zu sollen, gehören sie rechtzeitig an den Pranger der Feinde der Demokratie gestellt.

Auch wenn es langweilig klingt: Bürgerliche Gesellschaft, das ist Moderation, Diskurs und Kompromiss

Drittens: Wer soll auf die Barrikaden – die Bürger? Ach, da wird einem ganz wehmütig zumute. Als Barrikadenkämpfer haben sich die Bürger nur selten hervorgetan, meistens haben sie die Handwerksgesellen und Arbeiter vorgeschickt wie 1848 oder 1918. Und wo waren die tapferen Barrikadenkämpfer, als längst vor 1998 die Staatsquote stieg, die Steuern erhöht wurden und die Sozialabgaben explodierten, nicht zuletzt, um so die Einheit zu finanzieren?

Der Appell an den revolutionären Bürger zeigt sehr deutlich die Grenzen jener in letzter Zeit so oft beschworenen „Zivilgesellschaft“ und ihres „bürgerschaftlichen Engagements“ auf: Es sind die Grenzen der Verfassung selber, welche die bürgerliche Gesellschaft nicht aushebeln kann, um auf eigene Faust Regierungspolitik zu betreiben. Und: Über die Nichtbürger, den von Sascha Lehnartz in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung beschworenen Stammtisch vor dem RTL-II-Mikrofon, gebe man sich keinen Illusionen hin. Den klassenübergreifenden Konsens über die notwendigen Reformen gibt es nämlich keineswegs, sonst würden Sozialdemokraten und Gewerkschaften längst auf eine andere Strategie setzen.

Viertens: Im Moment ist das Rentner-Bashing angesagt, und die Flagge der Jugend und ihres Anspruchs auf Gerechtigkeit zu schwenken verspricht Punkte im politischen Kampf. Zweifellos: die Lastenverteilung zwischen den Generationen ist lange vernachlässigt worden, und die typisch deutsche Vorstellung, eine angeblich konstante gesamtgesellschaftliche Arbeitsmenge nur gerechter verteilen zu müssen – ein falsches Spiel bereits seit Ende der 70er-Jahre –, ist endgültig zusammengebrochen. Aber der kämpferische Gestus einer angeblich betrogenen Generation ist angesichts des Wohlstands der „Generation Golf“ fehl am Platze. Ein bisschen komplizierter als in dem Schema „Alt gegen Jung“ sind die Verhältnisse schon. Man muss nur daran erinnern, dass für den Erhalt der Rentenversicherung eine nachwachsende Generation notwendig ist, weshalb die kinderlosen Jungrevolutionäre über die jetzigen Rentner mal lieber schweigen sollten.

Fünftens: Der Vergleich, die historische Parallele, führt immer wieder in die Endphase der Weimarer Republik zurück. Darin lag auch die Pointe von Oskar Lafontaines Vergleich Gerhard Schröders mit dem Krisenkanzler Heinrich Brüning. Das neue Interesse von Baring und manchem anderen an der Weimarer Republik geht aber weiter und ist viel gefährlicher: Es ist nichts anderes als das Kokettieren mit der „Konservativen Revolution“, mit dem Aufstand junger Intellektueller auf der extremen Rechten gegen die Republik. Eine Gruppe, die sich als von den demokratischen Institutionen um ihre Zukunftschancen betrogene Jugend stilisierte. Aus dieser Generation rekrutierten sich die späteren Führungsschichten des Dritten Reiches.

Anders als in Weimar gibt es keine „emotionale Distanz der Bevölkerung zur Republik“

Da ist der Verweis auf die Staatskrise und die angebliche Auszehrung der Republik. Da ist der an Carl Schmitt erinnernde Ton vom „innenpolitischen Ernstfall“. Da ist die Stilisierung der Lage zu einer Situation der unmittelbar bevorstehenden „Entscheidung“, das Sichhineinsteigern in die Notwendigkeit der „Tat“, das Stolpern in den Aktionismus der Revolution. „Niemand wird heute“, so beruhigt Baring uns, „eine demokratische Diktatur fordern.“ Und morgen?

Eine echte Beruhigung gibt es zum Glück: Anders als vor siebzig Jahren fallen die bürgerlichen Parteien auf diese Krisenstilisierung, auf das Revolutionsgetue mancher Intellektueller nicht herein. Die Opposition ist gut beraten, weiter kühlen Kopf zu bewahren und sich auf eine harte Auseinandersetzung um die notwendigen Reformen im parlamentarischen Parteienstaat zu konzentrieren. Die 68er haben es gelernt: Bürgerliche Gesellschaft, das heißt immer noch Moderation, Diskurs und Kompromiss, so langweilig das manchem klingen mag und so brennend die Sachfragen auch sein mögen. Jetzt müssen offenbar die Vertreter des neuen voluntaristischen Revolutionismus diese Lektion lernen. PAUL NOLTE

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen