berliner szenen Geschichtsstunde

Im Volke

Man mag Oskar Lafontaine für einen halslosen Saar-Bonaparte halten und für einen schlechten Verlierer, aber eins muß man ihm lassen: Er bewegt. Seine Äußerungen lösen Debatten aus und erzeugen einen erklecklichen Bildungsmehrwert. Das Räsonieren über das Qualifikationsprofil von KZ- Kommandanten brachte die Sekundärtugenden zurück ins Feuilleton, die Reden über linke Herzen und die Schwestern Freiheit und Solidarität alte SPD-Metaphorik in die Talkshows. Mit seinem Schröder-Brüning-Vergleich aber erreicht er uns im Volke und regt hier zur so wichtigen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit an.

Zum Beispiel in der S-Bahn. Zwei Frauen, eine Anfang fünfzig, die andere Mitte sechzig, ein älterer Mann daneben, der Vater der Jüngeren. Das Gespräch springt von Schuhen über Weihnachtseinkäufe zur Krise. Die Jüngere: „Lafontaine hat Schröder ja schon mit diesem Kanzler verglichen. Wie hieß der noch, der, der vor Hitler dran war?“ Der alte Mann: „Stresemann.“ – „Nein, nein.“ Die Ältere: „War das nicht ein Sozialdemokrat? Ebert war es wohl nicht? Hindenburg?“ Die Jüngere: „Der war früher – ich komm nicht drauf.“ Der Alte: „Stresemann!“ Und übergangslos. „1918/19 hatten wir ja Revolution.“ Die Frauen lassen die Geschichte hinter sich und sind wieder bei den Einkäufen, doch der Alte ist nicht mehr aufzuhalten. Bahnhof Unter den Linden: „Hier standen die Funktionäre mit Maschinenpistolen, damals – am Potsdamer Platz auch. Die Russen wollten ja …“ Ohrenbetäubende Schienengeräusche „… erschossen. Die Nazis hatten alle Kapseln.“ – „Sparen bringt auf jeden Fall nichts!“, schließt die Jüngere. – „Himmler im Zahn. Wie die Iraker.“ Friedrichstraße: „Wir müssen raus, Vater.“

CARSTEN WÜRMANN