Sehr alt, sehr konservativ

Noch nie gab es so viele Beitrittskandidaten zur EU wie beim Kopenhagener Gipfel in wenigen Tagen. Bald, so scheint es, wird die Europäische Union ganz Europa umfassen. Ganz Europa? Nein, ein paar kleine, sehr kleine Staaten widerstreben. Länder wie der Pyrenäenstaat Andorra, in dem es zwar den Euro gibt, aber keine Steuererklärungen. Eine Erkundungsfahrt zu einer äußerst entlegenen Gemeinschaft

aus Andorra-Stadt HEIKE HAARHOFF

Sie waren vier Schwestern: Andorra, Liechtenstein, San Marino und Monaco – und wir durften sie beim Roten in der Geografiestunde rasch aufsagen: Andorra, Liechtenstein … und die Hauptstädte – und aus. Inzwischen hat sich die Familie bedeutend vermehrt, denn was wir da alles an kleinen Staaten in Europa dazubekommen haben, tut diesen vieren keinen Abbruch, sondern macht sie zu ganz respektablen Anwesen. (Kurt Tucholsky, „Ein Pyrenäenbuch“, 1927)

Joan Martí Alanis war seit zwanzig Jahren Bischof, als hohe Funktionäre der anarchosyndikalistischen spanischen Gewerkschaft CNT an seine Tür klopften. Der Hausherr war nicht überrascht. Bloß sehr müde. Er bat die Besucher, am runden Holztisch des „Palau episcopal“ mit Blick über die fruchtbaren bischöflichen Terrassengärten von La Seu d’Urgell Platz zu nehmen.

Der Bischof wusste, was ihn nun erwartete. Zivil- und Strafrechtler, Verwaltungsexperten, Delegierte von Menschenrechtsorganisationen, Sachverständige für Bildung oder internationale Abkommen, – sie alle hatten ihn schon besucht, manche mehrmals, und ihm Debatten über Aufenthalts- und Einwanderungsfragen, Erb- und Freiheitsrechte, Gerichtsbarkeit, Gewaltenteilung und Schulreform aufgezwungen, immer getrieben von der alles beherrschenden Frage: Wie weiter mit Andorra?

Und nun die anarchosyndikalistischen Gewerkschafter, angereist aus Barcelona in das katalanische Pyrenäenstädtchen La Seu d’Urgell an einem schönen Sommertag des Jahres 1990. Ohne Umschweife trugen sie dem Geistlichen ihre Forderungen vor: Tarifgesetz und geregelte Arbeitszeit für die spanischen Arbeiter im Fürstentum Andorra, Streik- und Demonstrationsrecht, Arbeitslosenversicherung.

Lange überfällige Forderungen, überall sonst in Europa eingelöst und nun bitte auch für Arbeiter in Andorra eilig durchzusetzen. Und zwar von Hochwürden persönlich, Joan Martí Alanis, im Hauptberuf Bischof von Urgell und qua Amt einer der beiden coprínceps, der Kofürsten von Andorra, wie die obersten Machthaber im Pyrenäenland heißen. Auf gleicher politischer Ebene steht nur einer: der jeweilige französische Staatspräsident, Andorras Kofürst Nummer zwei.

Der Bischof nickte stumm, daran erinnert sich noch heute sein Sekretär und engster Mitarbeiter Joan Massa Sarrado, verabschiedete seine Gäste, sank ein wenig in sich zusammen. Kein Arbeitsrecht, keine Gewaltenteilung, keine Verfassung – das war Andorra am Ende des 20. Jahrhunderts, eine 468 Quadratkilometer große Enklave hoch oben im schwer zugänglichen Teil der Pyrenäen zwischen Frankreich und Spanien, im Sommer bis zu vierzig Grad heiß, im Winter monatelang eingeschneit, ohne eigene Währung (die Euros werden in Frankreich und Spanien geprägt) und ohne nennenswerte Universität, dafür aber ein Paradies für Steuerflüchtlinge und Zigarettenschmuggler. Und er, der Bischof, an der politischen Spitze: ein katholischer Würdenträger, der beten und dem Heiligen Vater huldigen und zu Weihnachten die Messe lesen möchte, aber immer zu wenig Zeit für all das hat, weil er über ein ganzes Land herrscht, herrschen muss.

Diese weltweite Einmaligkeit – sieht man einmal von den Verhältnissen im Vatikan ab – hatte Jahrhunderte funktionieren können, solange die andorranische Gesellschaft aus einer Hand voll Großfamilien bestand, die ihr Zusammenleben weitestgehend unter sich regelten und ihre Neutralität nach außen durch je einen spanischen und einen französischen Regenten geschützt wussten. Aber am Ende des 20. Jahrhunderts lebten rund 65.000 Menschen unterschiedlicher Nationaliät und Herkunft in den Grenzen von Andorra, das zu diesem Zeitpunkt immer noch kein souveräner Staat war: Es existierte nicht nur kein Verfassungsgericht, es gab überhaupt keine modernen Institutionen. Der andorranische Innenminister war in Personalunion Außenminister und Strafrichter. Gesetze wurden auf dem Postweg zwischen dem Élysée-Palast in Paris und dem Bischofssitz in La Seu d’Urgell ausgehandelt.

Doch der internationale Druck wuchs, als die Praxis der andorranischen Ausländerpolitik bekannt wurde: Jährlich wurde festgelegt, wie viele Immigranten in Andorra einen Aufenthaltsstatus erhalten sollten. Sodann ließen sich die Gemeindevorsteher die potenziellen Einwanderer persönlich vorführen und entschieden mit Ja oder Nein.

„Der Bischof drängte als einer der Ersten auf eine Verfassung“, sagt sein Sekretär Joan Massa Sarrado. „Die Demokratisierung weg vom Feudalsystem war ein Prozess von oben nach unten“, sagt der Chefredakteur der größten Zeitung, Diari d’Andorra, Toni Farrero. „Wir sind eine sehr kleine, sehr alte und sehr konservative Gesellschaft“, sagt der andorranische Premierminister Marc Forné Molné, „das sollte jeder berücksichtigen, der heute nach Andorra kommt und verstehen will, warum wir auf unsere Eigenständigkeit innerhalb Europas großen Wert legen.“

Wer heute nach Andorra kommt … Die letzte Bahnstation auf französischer Seite liegt in L’Hospitalet près l’Andorre, zwei Gleise ohne Schalterraum, spärliche Beleuchtung, die einzige Dorfkneipe immerhin in Sichtweite. Von dort schiebt sich ein Bus vierzig Minuten lang Serpentine um Serpentine hinauf bis zur andorranischen Grenze. Einen Bahnhof gibt es in ganz Andorra nicht, geschweige denn einen Flughafen, nur Planungen zur Wiedereröffnung eines kleinen, stillgelegten Pyrenäen-Airports zehn Kilometer jenseits der Grenze auf spanischem Territorium im kommenden Jahr. Falls sich Spanien an den Baukosten, geschätzte achtzehn Millionen Euro, zur Hälfte beteiligt. Zukunftsmusik.

Gegenwärtig sieht die französisch-andorranische Busgrenze aus wie ein gut sortierter Duty-free-Shop, und die meisten Reisenden verlassen deswegen hier auch schon wieder den Bus, ohne anschließend irgendetwas vom „Landesinnern“ erkunden zu wollen. Zu beschwerlich die Fahrt, zu knapp die Zeit und, vor allem: Zu wenig verschieden von zu Hause, sagen viele Grenzgänger, als dass man sich hier länger als zum Einkaufen aufhalten müsste. Das aber immerhin tun sie in Scharen – 11,35 Millionen Gäste, davon 7,85 Millionen Tagesbesucher jährlich zählt Andorra laut Tourismusministerium. Die meisten von ihnen reisen im eigenen Auto an und warten dann in langen Staus an der Grenze. Denn weil Andorra zwar mitten in Westeuropa liegt, aber nicht zur Europäischen Union gehört, gibt es keine grüne Grenze, sondern teils sehr langwierige Kontrollen. Immerhin: Ein Visum brauchen EU-Bürger nicht.

Laut Umfragen kennen wenige Menschen in Europa die andorranische Gesellschaft, eine Gesellschaft, die sich, anstatt Kriege zu führen, mit dem Lauf der Geschichte arrangierte und die die Geschichte darüber irgendwann zu vergessen schien: Jahrhundertelang war Andorra, wiewohl ohne strategisches Interesse, Streitobjekt zwischen den spanischen Bischöfen von Urgell und dem französischen Adelsgeschlecht Castelbon, dessen Ansprüche 1206 auf den Grafen von Foix übergingen. Um des Friedens willen wurde 1278 ein vom Papst bestätigter „Paréage-Vertrag“ abgeschlossen, der Andorra in die Unabhängigkeit entließ, tatsächlich aber eine gemeinsame Herrschaft der beiden Kofürsten festlegte und darüber hinaus den Andorranern ab 1419 ein eigenes Parlament zubilligte. Das kontrollierte vor allem Handel, Zölle und Geschäfte und überließ die restliche Politik den Kofürsten.

Im 16. Jahrhundert gingen die Rechte des Grafen von Foix auf die Könige von Navarra über und 1607 auf Frankreich, das wenige Jahre nach der Revolution allerdings auf sie verzichtete. Erst Napoleon I. stellte sie 1806 wieder her. Im Rahmen einer ersten Reformbewegung wurde 1868 das Wahlrecht für Familienoberhäupter eingeführt, seit 1970 dürfen auch Frauen wählen. Die Kofürsten hingegen blieben Oberhäupter, also der Bischof einerseits und der französische Präsident als Nachnachnachfolger des Grafen von Foix andererseits. Auch als am 14. März 1993 in Andorra erstmals in der Geschichte des Landes und auf Betreiben des Bischofs hin eine Verfassung in Kraft trat. Seitdem ist ihre Rolle vergleichbar mit der des deutschen Bundespräsidenten oder der englischen Königin. Als eines der letzten Länder der Welt erlangte das Fürstentum Andorra damit kurz vor der Jahrtausendwende staatliche Souveränität in Form einer parlamentarischen Republik. Wenig später wurde Andorra in die UNO und in den Europarat aufgenommen.

Die Fahrt im beinahe leeren Bus geht weiter über eine schmale, asphaltierte Straße durch ein kurvenreiches Tal, rechts und links Berghänge mit Skiliften und geranienumrankten Chalets aus Holz und Stein wie in der Schweiz, dann durch gepflegte Straßendörfer, bis endlich nach einer Dreiviertelstunde die Hauptstadt Andorra la Vella auftaucht, Andorra-Stadt. Nicht enden wollende Einkaufsstraßen mit Parfümerien, Tabak- und Elektronikläden, Wein- und Spirituosenboutiquen, ein Geschäft neben dem anderen, so als brauchten die Andorraner ausschließlich Parfum, Tabak, Elektronikgeräten und Alkohol – und dann, endlich, das Cap de Govern, der Regierungssitz, ein zweckmäßiger Bürobau aus dem Jahr 1988, eingerahmt von majestätischen Pyrenäengipfeln.

„Wir Andorraner“, sagt Regierungschef Marc Forné Molné drinnen in seinem Amtszimmer mit brauner Ledercouch und ausladendem Palmengewächs, „existieren als eigenständige Gesellschaft seit mehr als sieben Jahrhunderten in Europa. Das ist ein bisschen länger als die Europäische Union.“ Der Vorsitzende der regierenden „Partit Liberal d’Andorra“ weiß, dass seine ironische Aussage als Arroganz missverstanden werden kann. Schnell schiebt er hinterher, dass die EU-Strukturen Andorra, wie übrigens allen anderen europäischen Mikrostaaten auch, gar keine andere Wahl ließen, als Nichtmitglieder zu bleiben. „Oder können Sie sich vorstellen, dass wir hier mal eben turnusmäßig die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen und einen EU-Gipfel ausrichten?“ Forné Molné, 47 Jahre, grauer Anzug, Brille, Bart, lacht laut auf bei dieser Vorstellung. Andorras „Streitkräfte“, die die Sicherheit eines internationalen Treffens garantieren müssten, belaufen sich auf 250 Polizisten. Fünfzehn Minister zählt das andorranische Kabinett, das Parlament besteht aus 28 Abgeordneten. „Na, die hätten aber ihren Spaß mit Brüsseler Papiervorlagen!“ Er sieht jetzt aus, als müsse er sich beherrschen, sich nicht auf die Schenkel zu klopfen.

Tatsächlich, das beanstanden auch Brüsseler EU-Diplomaten, hat es die Gemeinschaft in ihrem Bemühen, die osteuropäischen Länder zu integrieren, versäumt, über einen angemessenen Status für die europäischen Klein- und Kleinststaaten nachzudenken. Doch die eigentlichen Gründe, weswegen Andorra beim EU-Erweiterungsgipfel Mitte Dezember in Kopenhagen nicht zu den Beitrittskandidaten gehört, sind Argwohn und Misstrauen gegenüber der Größe der EU und ihrer Politik.

Schon heute sind die Andorraner eine Minderheit im eigenen Land: Nur etwa 28 Prozent der Bevölkerung besitzen einen andorranischen Pass; mehr als 60 Prozent sind Spanier, der Rest Franzosen und andere europäische Ausländer. Das liegt zum einen an einem sehr strengen Staatsbürgerschaftsrecht: 25 Jahre muss man kontinuierlich in Andorra gelebt haben, bevor man sich einem schriftlichen Test in andorranischer Geschichte, Kultur und Katalanisch, der andorranischen Amtssprache, unterziehen kann, um bei erfolgreichem Abschneiden anschließend die andorranische Staatsbürgerschaft beantragen zu dürfen.

Der zweite Grund für den großen ausländischen Bevölkerungsanteil ist die hohe Zahl von Einwanderern, die während des Spanischen Bürgerkriegs und später unter der Diktatur Francos in das neutrale Andorra flüchteten, manche aus politischer, andere aus wirtschaftlicher Not: Bis in die Siebzigerjahre hinein bot Andorra Waren zum Verkauf an, die in Spanien höchstens auf dem Schwarzmarkt und in Frankreich nur zu fast unerschwinglichen Preisen zu haben waren. Unter den Andorranern, einst ein armes Bergvolk, mehrte sich auf diese Weise der Wohlstand, aber auch das Gefühl, im eigenen Land von einer ausländischen, größtenteils spanischen Mehrheit bedroht zu sein.

Diese Angst ist im Zusammenhang mit der Frage der EU-Mitgliedschaft gewachsen. Zumal die EU, sagt der andorranische Regierungschef, sein Land ja zwingen würde, erheblich mehr in die Gemeinschaftskasse einzuzahlen, als Andorra jemals an Förderung zurückerhalten könnte. Damit nicht genug: Einerseits wolle die EU wohl gern vom Reichtum Andorras profitieren, um ihre Osterweiterung finanzieren zu können, andererseits aber kritisiere sie die Steuer- und Bankenpolitik des Pyrenäenstaats, die diesen Reichtum erst ermögliche, in einer Art und Weise, wie sie dem Regierungschef überhaupt nicht passt. „Wir sind doch nicht schon deshalb ein Steuerparadies, nur weil bei uns das Bankgeheimnis sehr ernst genommen wird und es keine direkten Steuern gibt“, sagt er. „Schauen Sie sich erst mal um, wo das Geld wirklich schlummert.“

Nach Angaben der Weltbank sind es weltweit fünftausend Milliarden Euro, verteilt über die Bahamas, Jersey und die Caymaninseln, die Schweiz, Monaco, Liechtenstein und wie die anderen Steuerparadiese alle heißen, die der Kontrolle des Fiskus entgehen. Zwölf dieser fünftausend Milliarden Euro liegen nach Angaben der andorranischen Regierung auf Konten in den Pyrenäen, eine vergleichsweise lächerliche Summe, so Marc Forné Molné. Man kann es ihm glauben oder nicht. Schriftliche Aufzeichnungen hierüber sind Aufsichtsbehörden unzugänglich: In Andorra ist es Unternehmen freigestellt, über ihre Geschäfte Buch zu führen, Jahresbilanzen zu erstellen, Umsätze öffentlich zu machen – oder eben nicht. Steuererklärungen braucht es da natürlich auch nicht.

Wer sich dagegen wehrt, wer fordert, dass Handel und wirtschaftliches Wachstum kontrollierbar sein und Reichtümer auf größere Teile der Bevölkerung verteilt werden müssen, auf dass diese wiederum einen Anreiz verspüre, in ihr Land zu investieren, wer solche Gedanken in Andorra öffentlich ausspricht, der wird kurzerhand mundtot gemacht: Jordi Marquet musste seinen Chefsessel bei der andorranischen Handelskammer im vorigen Jahr räumen, weil er Andorra ohne radikalen Wandel seiner Steuer- und Unternehmenspolitik den allmählichen gesellschaftlich-sozialen Niedergang prophezeit hatte. Heute sagt er: „Ich fühle mich in meiner Prognose bestätigt.“

Seit Einführung des EU-Gemeinschaftsmarkts hat Andorra seinen Duty-free-Status offiziell verloren, und auch wenn viele, vor allem elektronische Artikel immer noch billiger als anderswo angeboten werden und obwohl das Bruttoinlandsprodukt mit geschätzten 1,2 Milliarden Euro ansehnlich ist – offizielle Zahlen gibt es nicht –, ist die sozioökonomische Situation Andorras nicht wirklich entspannt.

Straßen und Tunnel beispielsweise müssten in den nächsten Jahren bei steigenden Bevölkerungs- und Touristenzahlen eigentlich ausgebessert, verbreitert, neu gebaut werden. Doch über Steuereinnahmen verfügt der Staat kaum, abgesehen von der Tabaksteuer sowie indirekten Steuern auf Immobilien, Hotels und Geschäftsräume. Mit einem Gesamtjahreshaushalt von 24 Millionen Euro und Bodenpreisen wie auf den Pariser Champs-Élysées erscheint es utopisch, dass der Staat irgendeine Straße aus eigenen Mitteln bauen könnte, und das private Investitionsinteresse ist ebenfalls gering.

Wie sollte es auch anders sein, meint der Ökonom Jordi Marquet und gibt selbst die Antwort: Alle Firmen, selbst internationale Ketten wie beispielsweise McDonald’s, sind fest in andorranischer Hand, zumindest auf dem Papier: Ausländer dürfen nach andorranischem Recht höchstens 33 Prozent des Firmenkapitals besitzen; Eigentümer muss immer ein Inländer sein.

Auch der Besitz von Land und Immobilien, seit je Basis des andorranischen Reichtums, unterliegt strengen Auflagen: Pro Ausländer sind nicht mehr als ein Grundstück und eine Immobilie zulässig. Entsprechend blüht der Handel mit andorranischen Namen und sinkt die Bereitschaft der mehrheitlich ausländischen Bevölkerung, sich für das Gemeinwohl zu engagieren. Gedankt würde es ihr ohnehin nicht. Im Gegenteil: Stets rechnen sie damit, berichten in Andorra lebende Ausländer, die nicht mit Namen genannt werden wollen, dass man ihnen irgendwelche Schuld in die Schuhe zu schieben versucht.

Im Sommer vor einem Jahr herrschte in der kleinen andorranischen Gemeinde Soldeu Trinkwasserknappheit. Unter dem Applaus der örtlichen Bevölkerung ließ ein alteingesessenes Familienoberhaupt eine Pumpe installieren, die den Ort fortan mit Bachwasser versorgte. Daraufhin erkrankten etwa zweitausend Einheimische und Touristen an einem seltsamen Virus. Als der Andorraner und seine Pumpe in die Kritik zu geraten drohten, meldeten örtliche Ärzte und Journalisten übereinstimmend: Ein aus England eingeschlepptes Virus sei der Krankheitserreger, nicht unsauberes Wasser aus dem Bach.

Es braucht seine Zeit, bis man die Kuriositäten dieses kleinen Landes begreift“, sagt ein spanischer Diplomat. So legt Andorra großen Wert darauf, das wohl einzige kapitalistische Land der Welt zu sein, das sich einer real existierenden Vollbeschäftigung rühmen kann. Kein Wunder: Wer als Ausländer seine Arbeit verliert – und das kann schnell gehen, weil es bislang keinen Kündigungsschutz gibt –, erhält statt Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe die Aufforderung, das Land zu verlassen. Die Krankenversicherung erlischt derzeit zwanzig Tage nach Verlust der Arbeit; die Europäische Sozialcharta hat Andorra nicht unterzeichnet. Andorranischen Staatsbürgern freilich droht kein Rausschmiss bei Jobverlust – wohin auch? Im Gegenteil: Bei Neueinstellungen müssen sie bevorzugt berücksichtigt werden.

Als die frisch gegründete Gewerkschaft Unió Sindical d’Andorra (Usda) letzten Sommer zu einer ersten landesweiten Demonstration gegen das archaische Sozialsystem aufrief, erschienen etwa zwei Dutzend Personen, „alle sehr eingeschüchtert“, erinnert sich Gewerkschaftspräsident Gabriel Ubach. Der Grund: Das konstitutionell garantierte Versammlungs- und Demonstrationsrecht ist knapp zehn Jahre nach In-Kraft-Treten der Verfassung noch nicht in nationales Recht umgesetzt worden.

Joan Martí Alanis ist jetzt 74. Er wird sich mit diesem Streit nicht mehr beschäftigen. Mit Vollendung des 75. Lebensjahres sind katholische Bischöfe gehalten, ihren Amtsverzicht einzureichen. In La Seu d’Urgell wird gemunkelt, Joan Martí Alanis sehe 2003 mit Freude entgegen.

HEIKE HAARHOFF, 33, ist taz-Reporterin