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Wo die Rente liegt

aus Berlin KIRSTEN KÜPPERS

Als Attraktion steht eine Currywurstbude da, ein Schuhgeschäft, ein Blumenladen. Auch ein Supermarkt soll unter dem Vordach locken und grüßen. Der Eingang zum Haus liegt erst viel weiter hinten versteckt, hinter den Schuhen und den Rosen, drinnen im Durchgang. So als hofften die Beamten, dass durch ein vorgelagertes Einkaufszentrum mit Würstchenverkauf alles ein bisschen einladender wird, dass sich die Kunden vom Imbiss vielleicht sogar zufällig einmal tiefer hineinverirren in diesen großen, braunen Betonklotz, in dem die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) sitzt. Das Haus, in dem die Rente der Deutschen verwaltet wird.

Der Koloss mit Hauptsitz am Fehrbelliner Platz in Berlin ist sechs Stockwerke hoch, vier Straßenzüge lang. Denn gegen die Gleichgültigkeit der Massen muss mit gewaltigen Kapazitäten vorgegangen werden. 15.000 Mitarbeiter sind bei der BfA allein in Berlin beschäftigt, bundesweit sind es 26.800. Ein Aufgebot an Personal, das immer wieder aufs Neue im Namen der gesetzlichen Aufklärungspflicht gegen das Desinteresse der Bevölkerung in Stellung gebracht wird. Allein 24.000 Informationsbroschüren senden die Beamten derzeit an jedem Arbeitstag ins Land – nur eine Maßnahme von vielen gegen die Ahnungslosigkeit von knapp 25 Millionen Versicherten, 7,8 Millionen Rentnern und 1,8 Millionen Arbeitgebern, die die BfA zusammen in der gesetzlichen Rentenversicherung betreut. Schließlich ist das mit der Rente so eine Sache. Wer interessiert sich schon für das, was in 20, 30 oder 40 Jahren sein wird?

Dass die Leute sich nicht genug kümmern um ihr Auskommen im Alter, das war schon immer so. Gert Müller kann das belegen. Müller ist 63 Jahre alt und hat am Freitag vor einer Woche seinen letzten Arbeitstag gehabt bei der BfA, die Kollegen haben ihm zum Abschied ein Fotoalbum geschenkt. Jetzt trägt er ein lockeres, gelbes Polohemd unterm karierten Jackett. Er ist noch mal ins Haus gekommen, um zu erzählen. 41 Jahre lang hat er im 1. Stock gesessen mit Blick auf den Hof und den Parkplatz, er hat Rentenbescheide erstellt und Mitarbeiter geschult. Er kennt die Probleme, sagt er und hebt gleich die Hände als Warnung.

Das Puzzle eines Lebens

Als Müller angefangen hat bei der BfA, standen noch keine Computer auf den Schreibtischen, sagt er, nur Aktenberge. Und um die Vorsorge stand es bei den Menschen noch schlimmer als heute. „Auf den letzten Drücker kamen die Leute da an, oft erst zwei Monate vor der Pensionierung!“ Müller kann es kaum fassen. Mit Schuhkartons voller Fotos, Zetteln und Briefen erschienen die Menschen bei ihm. Mit verknickten eidesstattlichen Erklärungen, eingerissenen Lochkarten und ausgeblichenen Zeugnissen. Das Puzzle eines ganzen Lebens. Ein ungeordneter Stapel Papier, der übrig bleibt am Schluss von der Arbeit, von wertlosen Inflationsmillionen, Hochzeiten, Karrieren, Kindern, Pleiten, Krankheiten und vom Einsatz in Russland an der Front.

Und weil die BfA all diesen Alten trotz ihrer mangelhaften Buchführung dennoch eine vernünftige Rente ausgezahlt hat und weil auch heute noch Millionen von Senioren gut leben können von dem, was die Behörde ihnen monatlich überweist, glaubt Gert Müller weiterhin das, was viele in diesem Land längst nicht mehr glauben: „Das deutsche Rentensystem ist immer noch das beste auf der ganzen Welt.“

Seit einer Woche ist Müller erst in Pension, er läuft durch die Flure der BfA, Linoleumgänge entlang, an geschlossenen Bürotüren vorbei, zeigt seine alte Arbeitsstätte vor. Seine Auffassung wäre eine andere, sagt er, wenn die Behörde nur ein besseres Sozialamt wäre. „Aber das ist sie nicht.“ Er hat ja jeden Tag gesehen, wie es funktioniert. Müller geht Treppen hoch und wieder runter, eine Hand am Geländer, und erklärt, dass sein Dasein „schon ziemlich verwachsen ist mit all dem hier“. Er erzählt von Handwerkerfirmen, die nur von Aufträgen der BfA leben, von Malern, die ihr Leben lang nichts anderes als dieses Haus streichen. Er läuft am Fahrstuhl vorbei, vom Altbau in den Neubau, in den noch neueren Gebäudetrakt. Und wenn man alle Gänge hier aneinander hängen würde, erklärt er beim Gehen, ergäbe das eine 40 Kilometer lange Straße, „eine Strecke, die für einen Marathon reicht“. Müller will weiter arbeiten für die BfA, sagt er. Trotz Pensionierung, ehrenamtlich.

In einem Großraumbüro am hinteren Ende eines Flurs trifft man dann auf eine blasse Frau in grünem Pullover. Die 31-jährige Yvette Schwebs ist Azubi und kennt die BfA noch nicht so lange wie Gert Müller. Und vielleicht ist das auch der Grund, warum die angehende Verwaltungsinspektorin nicht sicher weiß, ob sie dem Rentensystem hierzulande traut. „Mal sehen, was die Zukunft so bringt“, sagt sie vorsichtig. „Irgendjemand wird schon eine Lösung finden.“ Yvette Schwebs sitzt an ihrem BfA-Schreibtisch und wartet darauf.

Das Problem ist eine demografische Kurve. Sie bedeutet, dass immer mehr Alte von immer weniger Jungen finanziert werden müssen und dass ein System über kurz oder lang kollabieren muss unter solchen Bedingungen. Yvette Schwebs hat deswegen im letzten Jahr für sich selbst eine staatlich geförderte Zusatzrente abgeschlossen. „Das ist alles, was ich jetzt erst mal tun kann“, sagt sie und guckt, als wüsste sie wirklich nicht weiter. Ein bisschen überfordert auch. Was soll sie schon sagen?

Mit Diskussionen um Veränderungen hält sich Gert Müller längst nicht mehr auf. Irgendwo in den 80er-Jahren, in einer Windung im Streit um die Regelung der Hinterbliebenenrente, ist sein Interesse an neuen Modellen verloren gegangen. „Die vielen Gesetzesänderungen – das ist Wahnsinn“, meint er, „und es werden immer mehr.“ Müller sitzt entspannt auf einem Bürostuhl jetzt, er ist wieder drin in der Rolle, tut so, als habe er vergessen, dass er schon in Pension ist: „Wir erfahren schon früh genug, wenn’s konkret wird“, sagt er. „Und dann geht es los!“

Am 20. Dezember zum Beispiel, wenn aller Voraussicht nach das Beitragssicherungsgesetz verabschiedet wird, das einen Beitragssatz von 19, 5 Prozent beschließt. „Ein Riesenaufwand ist das“, meint Müller. In der Programmabteilung werden die neuen Zahlen ins System eingebaut, die Sachbearbeiter müssen die Berechnungsgrundlage lernen, Rundschreiben verteilen, Broschüren in Auftrag geben, Texte im Internet ändern, externe Versichertenberater schulen. „Da fragt keiner, ob Weihnachten war oder Sylvester“, meint Müller. „Am 2. Januar sitzen die Bürger bei uns in der Beratungsstelle und brauchen Hilfe.“

Die Behörde meint es gut

Und das ist ja nicht das Schlechteste. Die BfA ist froh um jeden, der kommt. „Gerade unsere jüngere Zielgruppe haben wir beim Thema Altersvorsorge im letzten Jahr nicht in dem Maße erreicht, wie wir es gern hätten“, sagt Alfred Verstegen. Als Leiter der Auskunfts- und Beratungsstelle sitzt Verstegen im ersten Stock des BfA-Gebäudes, und wer ihm zuhört, wird erfahren: diese Behörde meint es nur gut.

Verstegen ist ein junger Beratungsstellenleiter, er sagt Sätze, in denen Worte wie „Service“ und „Strategie“ vorkommen und: „Wenn die Leute nicht zu uns finden, kommen wir eben zu ihnen.“ Gegen das Unwissen der Bürger hat die BfA eine gebührenfreie Service-Hotline eingerichtet. Die Beamten stellen Rentenformulare ins Internet, veranstalten Tage der offenen Tür, halten Seminare ab. Neuerdings bauen die Kollegen am Wochenende in Einkaufszentren sogar Stände auf, um den Menschen die Rente zu erklären. „Natürlich ist das alles ein großer Aufwand, aber von sich aus kommen die Leute ja nicht“, meint Verstegen. Er sieht etwas verzweifelt aus. Einfach ist es nicht.

Vor seiner Bürotür im Neonlicht des Warteraums sitzen ältere Menschen in Mänteln und Mützen. Sie sagen: „Ich hab keine Ahnung“, oder „Ich blick bei der Rente überhaupt nicht mehr durch.“ Viele sagen lieber gar nichts. Die Bürger haben einfach Angst vor der BfA. Verstegen glaubt, das kommt, weil die Rente immer komplizierter wird. „Vor zehn Jahren hat ein normales Beratungsgespräch im Durchschnitt 15 Minuten gedauert, heute braucht eine Antragsannahme im Schnitt 38,5 Minuten.“ Verstegen sagt, dass er das auch nicht gut findet. Man muss Beamten von der Rentenkasse heutzutage vielleicht kein Wort mehr glauben, aber dieser Mann sitzt in einem ordentlichen, weiß-blau gestreiften Hemd hinter einem Schreibtisch und macht einen ehrlichen Eindruck. Und die Lage ist ernst. Nach den ungefähren Dimensionen der deutschen Scheuklappenmentalität gefragt, antwortet er: „Wenn wirklich alle kämen, die es nötig hätten, würde der ganze Laden hier zusammenbrechen.“

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