Sibirische Zeiten

Im Sommer druckte die „Zeit“ Impressionen einer Russlandreise – und trat eine Protestlawine unter ihren Lesern los, die heute noch rollt. Ein Protokoll

von EKATERINA BALIAEVA

Am 25. Juli erschien in der Zeit ein ganzseitiger Artikel von Barbara Lehmann: „Bei den blauen Nasen“. Er handelte von ihrer Suche nach russischen Künstlern für eine Kulturveranstaltung in Deutschland. Diese Suche führte sie von Moskau bis nach Sachalin – 15.000 Kilometer mit dem Flugzeug quer durch Sibirien. Was sie fand, war frustrierend. In ihrem Artikel scheute sich die Autorin dann auch nicht, „fast jedes Vorurteil über Russland zu bedienen“, wie anschließend ein Dr. Stephan Heidenhain in seinem Leserbrief an die Zeit schrieb, die ihn auch – entschärft – abdruckte: „Alles scheint der Autorin schlecht, lächerlich, dreckig, alle sind besoffen, Penner oder alte Sowjets, Mafia oder korrupte Nomenklatura.“

Weil der Zeit-Artikel leider nur allzu typisch für die deutsche Berichterstattung über Russland war, ließen wir ihn in der russischen Szene Berlins zirkulieren. Als dann auch noch eine Gruppe von Russen aus Sibirien zurückkam, die nahezu dieselbe Tour unternommen hatte wie Barbara Lehmann, jedoch ganz andere Eindrücke dabei gewonnen hatte, stellten wir ihren Artikel verbunden mit einem Aufruf ins Internet – und ermöglichten damit seine öffentliche Diskussion:

Ein Achim schrieb: „Was der Autorin aus ihrer vermutlich Eppendorfer Szenesicht zu fehlen scheint, ist die Liebe zu den Menschen.“

Eine Irene schimpfte: „… ein derartige Anhäufung überholter Klischees hat mir völlig die Sprache verschlagen. Dass so etwas in der Zeit veröffentlicht wird, ist entweder ein Irrläufer oder in anderer, noch schlimmerer Weise skandalös.“

Die Rowohlt-Lektorin Patricia meinte dagegen: „… ich bin unangenehm berührt von dieser kleinen Hetzkampagne, die da in Berlin ihren Ausgang nehmen soll. Glauben sie mir, nicht der Zeit-Artikel legt den Verdacht von ‚Volksverblödung und Propaganda‘ nahe, von Verletzung der Menschenwürde, sondern jener Aufruf, der m. E. jeder Grundlage entbehrt und eine äußerst dubiose Sehnsucht nach Imagekorrektur verrät, um nicht gleich zu sagen: Zensur. Demokratie will offenbar gelernt sein.“

Renate ärgerte sich dagegen „maßlos“ über den Zeit-Artikel: „Beim besten Willen kann ich mir nicht vorstellen, wie diese Dame wochenlang Russland abreist – jeder, der da war, weiß, wie sehr man sich um sie bemüht haben wird …“

Die ebenfalls oft die GUS-Länder bereisende Rusanna kann den „Besuchsstress“ der Autorin nachempfinden: „Viele von uns sind so viel (unberechenbare) Gastfreundlichkeit, notgedrungene Spontaneität und die vielen für uns scheinbar unauflösbaren Widersprüche des Landes und seiner Leute nicht gewöhnt, und viele – wie auch die Autorin – sind dem nicht gewachsen.“

Dr. Stephan, mit zweien aus der Reisegruppe der Zeit-Autorin bekannt, kann die Empörung nicht recht nachvollziehen: „Das ist doch schon einmal ein Verdienst! – Dass da vier ExpertInnen für osteuropäische Kultur einen Monat lang durch Sibirien fahren. Immerhin hätte man sich einfach auf die Vorschläge des russischen Kulturministers zurückziehen können …“

Auch Robert findet die Internet-„Maßnahme“ überzogen: „Ich war beim Lesen des Zeit-Artikels der festen Ansicht, dass es eine laue Satire war.“ Alexander schreibt: „Ich denke nicht, dass die Autorin auf Propaganda aus war, nein – diese Bilder von Russland haben sich in ihrem Kopf eingeprägt, bevor sie hinfuhr.“

Anna hat sich bereits beim Ressortleiter der Zeit über den Artikel beschwert und findet die Internet-Initiative gut: „Wenn die Autorin die Reise psychisch nicht verkraftet hat, so ist das ihr persönliches Problem, berechtigt aber nicht zur Verunglimpfung des gesamten Landes.“

Anke findet dagegen die Reaktion auf den Zeit-Artikel in der russischen Szene Berlins übertrieben: „Mir ist nicht ganz klar geworden, warum Sie das Geschütz ‚Volksverblödung‘ gegen eine Farce auffahren wollen.“

Der Hamburger Journalist Andrej schreibt in einem Leserbrief an die Zeit, dass die Autorin offensichtlich ihren Beruf als Journalistin verfehlt hat: „Oder wie sonst erklären Sie sich diese leeren Phrasen an den Absatzenden – ‚Nein, vor den Russen werden wir uns ab heute nicht mehr fürchten.‘?“

Auch Hartmut vom Eurasischen Magazin ist der Meinung: „Frau Lehmann zieht wirklich alle Register, um Russland in einem möglichst schlechten Licht erscheinen zu lassen.“

Andrea empfiehlt dagegen umgekehrt den empörten Diskussionsteilnehmern „etwas mehr Gelassenheit“.

Helena schreibt: „Ich selbst habe unter den von Frau Lehmann erwähnten Städten im Mai diesen Jahres Nowosibirsk bereist, und ich konnte nicht erkennen, dass dort das Straßenbild von Ruinen und ausgebrannten Häusern dominiert wurde, was ja der Fall sein müsste, wenn dort, wie Frau Lehmann schreibt, alles aussähe ‚wie nach einem langen Krieg‘.“

Alexej vermutet nach dem Lesen des Artikels: „Die westlich arrogante Grundstimmung ist offenbar bewusst von Frau Lehmann geschaffen worden.“

Felix attestiert der Autorin damit jedoch immerhin eine schöne Wirkung: „Mit einem an sich harmlosen Bericht auch noch eine Skandal im Kreise der Jungen Osteuropaexperten auszulösen, ist eine Kunst, die in der BRD wohl nur wenige beherrschen.“ Dazu berichtet er eine Geschichte aus seiner Zeit als Freiwilliger bei der Aktion Sühnezeichen in St. Petersburg, über die einmal einige Journalisten von Bild am Sonntag berichten sollten: Sie gaben sich viel Mühe und verpulverten tausende von Mark – am Ende fiel ihr Artikel samt der Fotos derart positiv aus, dass er nie gedruckt wurde!

Andrej aus St.Petersburg fällt zum Zeit-Artikel ebenfalls eine deutsche Mediengeschichte ein: „Nach der Flugzeugkatastrophe über dem Bodensee schrieb die Süddeutsche Zeitung: ‚… dass die russischen Piloten angeblich am Vorabend viel Alkohol getrunken haben‘. Muss das sein – ausgerechnet am Trauertag?“

Frank schreibt: „Als jemand, der beruflich alle zwei Monate in Sibirien ist und sowohl Omsk als auch Nowosibirsk und Irkutsk bereist, habe ich den Eindruck, ein völlig anderes Land zu kennen als Frau Lehmann.“

Uta nimmt dagegen den Zeit-Artikel in Schutz und vermutet stattdessen, dass die Autoren des Internet-Aufrufs „ein persönliches Problem“ mit Frau Lehmann haben. Auch Hartmut aus Krakau kritisiert die Initiative, insbesondere findet er die Wortwahl darin – Volksverblödung, Propaganda und Skandal – „unangemessen“, obwohl er den Zeit-Artikel „noch nicht lesen konnte“.

Frank, Leiter des „Projekts Sibirien“, schreibt an die Zeit und im Internet: „Man sollte keine Leute ins Ausland entsenden, wenn diese Angst vor anderen Kulturen haben und alles nach unseren Maßstäben messen.“

Schließlich meldete sich auch noch Tetyana zu Wort: „Ich möchte mich für die schöne Diskussion bedanken, die ihr da ‚angestiftet‘ habt.“