Architektin und Linguist über Brasilien: „Tupi or not Tupi“
Die Blindheit der brasilianischen Mittelschicht und die fehlende Aufarbeitung der Militärdiktatur: Ein Gespräch mit der Architektin Ambrosio und dem Linguisten Reich.
taz: Frau Ambrosio, Herr Reich, Charles de Gaulle hat Brasilien einst mit dem Satz charakterisiert, dem Land fehle es an Ernst. Wie falsch lag er?
Ana Beatriz Ambrosio: Der Eindruck des Unernsten rührt vom jeitinho brasileiro her, einer Einstellung, die weit verbreitet ist und sich auf den kreativen Umgang mit Problemen im Alltag bezieht. Das geht dann auch oft schief und die Fußballstadien werden zum Beispiel nicht termingerecht fertig. Trotzdem läuft die WM.
Uli Reich: De Gaulles Landsmann Claude Lévi-Strauss hat das Land besser verstanden. Sein Buch über Brasilien heißt „Traurige Tropen“. Wer sich auch nur ein bisschen mit seiner Geschichte und kulturellen Vielfalt beschäftigt, kann diesen Ernst in der Literatur, aber auch in populären Formen der Kultur ausmachen. Dass die Brasilianer Lebensfreude an den Tag legen, ist doch selbstverständlich.
Beim Singen der Nationalhymne wirken die Spieler der Seleção vom Text angewidert. Drückt diese Geste Solidarität mit der Protestbewegung aus?
Ambrosio: Die Mannschaft hat die Proteste zumindest nicht verurteilt. Früher wurde nur die Hälfte des Liedes gesungen. Vor einem Jahr hieß es plötzlich, das Singen der kompletten Hymne soll Energie spenden.
Reich: Die Fußball-WM in Brasilien wird ja von der Fifa diktiert. Deshalb können die Nationalspieler gar nicht anders, als ihre Solidarität mit der Protestbewegung zu bekunden, weil die Demonstranten objektiv recht haben. Die WM ist eine gute Plattform, um das Bild zurechtzurücken, das systematisch seit der Zeit der Militärdiktatur aufgebaut wurde: das Klischee von den fröhlichen, stets Samba spielenden, permanent auf Sex aus seienden Brasilianern.
Was hatten Sie für ein Bild von Deutschland, bevor Sie nach Berlin gekommen sind?
Ambrosio: Ich hatte nur Bruchstücke von Deutschland wahrgenommen: seine schwierige Geschichte. Und es gab eben Klischees, etwa, die Deutschen seien pünktlich und seriös. Jetzt, wo ich hier lebe, gefällt es mir sehr gut. Auch wenn die Sprache kompliziert ist.
49, ist seit 2008 Professor für Romanische Sprachwissenschaft mit Schwerpunkt Portugiesisch und Spanisch an der FU Berlin. Von 2007 bis 2008 lehrte Reich als Gastprofessor an der Universidade Federal in Rio de Janeiro.
Hat sich Ihre Vorstellung von Brasilien mit dem gedeckt, was Sie im Land erleben?
Reich: Mein Brasilien-Bild erweitert sich kontinuierlich. Das Land ist ein Kosmos mit einer riesigen historischen Dimension. Wenn ich durch Brasilien reise, habe ich das Gefühl, ich bereise die ganze Welt.
In den 1920er Jahren entstand in Brasilien die Avantgardebewegung des Modernismo, die auf den Dichter Oswald de Andrade zurückgeht. Warum ist sie wichtig?
Reich: Im Modernismo liegt die Moderne begründet und sie ist mit der Suche nach einer Identität verknüpft. Tupi or not Tupi. Tupi heißt die Sprachfamilie der indigenen Gruppen, die an der Küste bei Ankunft der Portugiesen siedelten. Demografisch spielen sie heute keine Rolle mehr. Vielmehr war dieses emphatische Bekenntnis des Modernismo gegen die Dominanz der portugiesischen Kultur gerichtet, die aufgefressen werden sollte, was im Konzept des Anthropophagismus, also der Menschenfresserei, ausgedrückt wurde. Amerikanische, afrikanische und europäische Traditionen werden verwurstet und brasilianisch gewendet. Das zeigt sich zum Beispiel in der Toponymie: Itaquaquecetuba heißt erst seit den 50er Jahren so, gegründet wurde die Stadt als Vila Nossa Senhora d’Ajuda. Die Moderne in Brasilien ist eine Avantgarde, die nationalistisch ausgerichtet war und ist. Dass man brasilianische Kultur auf einen gemeinsamen Nenner runterbricht, funktioniert hingegen nicht. Viel eher sind es rhizomatische Gebilde, die immer neu zusammengesetzt werden können.
Steht dies auf dem Lehrplan?
Ambrosio: Ja, die Semana de Arte Moderna lernen wir in der Schule. Es ist zum Verständnis des Landes wichtig. Auch für Architektur. Noch im 19. Jahrhundert sind alle Architekten zum Studieren nach Europa gegangen. Die erste Universität wurde erst 1920 in Rio de Janeiro gegründet. Das Werk des Architekten Oscar Niemeyer und die von ihm begleitete Errichtung von Brasília als neue Hauptstadt lassen sich im Zusammenhang dieser emanzipatorischen Bewegung situieren. Der Wille, mitten im Nirgendwo eine Hauptstadt zu erbauen, zeugt vom politischen und kulturellen Selbstbewusstsein Brasiliens bis zur Katastrophe der Militärdiktatur, 1964 bis 1985.
geboren 1975 in São Paulo, hat Architektur und Städtebau an der Faculdade de Belas Artes in ihrer Heimatstadt studiert. Von 1995 bis 2005 hat sie als Architektin zunächst in São Paulo und später in Köln gearbeitet. Seit 2008 lebt sie in Berlin und führt Touristen aus Brasilien durch die Stadt.
Wie stark hat Niemeyer Brasilien geprägt?
Ambrosio: Er ist der bekannteste Architekt des Landes. Aber er hat auch anderswo seine Spuren hinterlassen: in New York bei der UNO, auch in Berlin. Seine Bauweise symbolisiert unser Land, weil er die Geschichte Brasiliens im 20. Jahrhundert architektonisch ausgestaltet hat.
Wie groß sind die Unterschiede innerhalb Brasiliens?
Reich: Einerseits gibt es sehr progressive Gesellschaftsschichten im Süden, wo Formen der Demokratie herrschen, wie sie selbst in Mitteleuropa kaum vorstellbar sind. Beispiel Porto Alegre, wo man in der Kommune per Volksentscheid über den Haushalt abstimmt. Andererseits herrschen im Nordosten noch mittelalterliche Verhältnisse. Dort existieren riesige Latifundien, die von Großgrundbesitzern dominiert werden, völlig normal in einem Land, das bis jetzt keine Landreform erlebt hat. Man kann momentan auch ärmere Schichten in Shoppingmalls erleben, eine Revolution ist das aber noch lange nicht.
Ändert Staatspräsidentin Dilma Rousseff daran nichts?
Reich: Sie ist eine Heldin der Linken, weil sie während der Zeit der Militärdiktatur in der Guerilla war und gefoltert wurde. Es gelingt ihr aber nicht, ihre wahrscheinlich guten Intentionen umzusetzen. Stattdessen beobachten wir ihre Machtlosigkeit. Neben dem Fehlen einer Landreform ist keine Bildungsreform in Sicht und auch keine Reform des Gesundheitswesens, die grundlegend wären.
Ambrosio: Frau Rousseff hat es bis jetzt versäumt, die Geschichte der Militärdiktatur umfassend aufarbeiten zu lassen. Obwohl ihr das Leid aus eigener Anschauung bekannt ist, schweigt sie sich darüber aus. Viele Brasilianer wissen bis heute nicht, was mit ihren verschwundenen Angehörigen geschehen ist. Seit 2012 gibt es endlich die nationale Wahrheitskommission. Aber viele der Zeitzeugen der Diktatur sind bereits gestorben, die Zeit drängt.
Reich: Kein Vergleich mit Chile und Argentinien, wo die Erinnerung an das Leid während der Diktatur wenigstens in Denkmälern und Tafeln im Stadtbild der großen Städte bewahrt wird. Wo es Entschädigungszahlungen gegeben hat, wo Militärs und Politiker auch juristisch zur Verantwortung gezogen worden sind. Es gibt keine Reflexion und keine Kultur der Aufarbeitung.
Ambrosio: Bei der WM-Eröffnungsfeier war einer jener Putschisten neben Rousseff zu sehen: José Maria Marin. Zur Zeit der Diktatur war er Bürgermeister von São Paulo. Er hat die Diktatur mehrfach öffentlich verteidigt. Heute ist er Präsident des brasilianischen Fußballverbandes. Das ist unerträglich.
Was genau bedeutet Armut in Brasilien?
Reich: Während die Favelas inzwischen in Musik und Kino thematisiert werden, sind sie in Brasilien selbst unsichtbar. Die Mittelschicht hat eine Art Blindheit entwickelt, was das Thema angeht. In Rio ist das etwas schwieriger, weil die Favelas mitten in den bürgerlichen Vierteln liegen. Dort heißt die relevante Opposition „Asfalto“ oder „Morro“, also Asphalt oder Hügel, auf denen sich die meisten der Favelas in den besten Lagen erstrecken. Die Realität in den Favelas ist komplex. Es gibt dort strenge Hierarchien, alles ist merkantilen Gesetzen unterworfen, eine Schattenwirtschaft.
An der Ungleichheit entzünden sich die Proteste. Es fehlt an Schulen und Universitäten.
Ambrosio: Ein Lehrer verdient in Brasilien ungefähr 1.700 Reais, das sind etwa 550 Euro, damit kann man nicht mal seine Miete bezahlen, in den Großstädten sind die Lebenshaltungskosten so hoch wie in Deutschland. Nur wenige Menschen ziehen den Lehrerberuf überhaupt in Erwägung. Viele junge Akademiker verlassen das Land.
Reich: Daher werden häufig unausgebildete Personen auf die Schüler losgelassen.
Ambrosio: Das ist ein Erbe der Diktatur. Damals wurde Bildungspolitik systematisch vernachlässigt. Unter Lula hat sich wenigstens der allgemeine Wohlstand vergrößert, die untere Mittelschicht fährt nun Auto, und diese Menschen wollen auf lange Sicht auch in den Genuss von Bildung kommen.
Können Sie etwas zum Zustand der Medien sagen?
Reich: Der Sender TV Cultura wurde 2014 von der BBC zu Recht als zweitbestes Fernsehprogramm der Welt ausgezeichnet. Es gibt auch sehr gute populär-wissenschaftliche Magazine zu kaufen, sogar eins für Linguistik. Folha de São Paulo ist eine sehr gute Tageszeitung …
Ambrosio: … die im Ruch der Korruption steht. José Sarney, einer der Herausgeber, ist ein Politiker, der schon seit der Diktatur seine Finger in alles steckt. Er kontrolliert auch die renommierteste Tageszeitung im Land. Brasilien wird ausschließlich von solchen Machtmenschen regiert. Das muss sich ändern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen