■ Buchtip
: Archäologin der Sinne

Zauber. Gleichzeitigkeit. Opfer und Täter. Damals, heute. Gedächtnis und Verdrängung, Schweigen und Sprechen. „Die Zeit ist eine blinde Führerin“, so beginnt das erste Kapitel „Ertrunkene Stadt“ des Romans von Anne Michels. Die Autorin, 1958 in Toronto geboren, Verfasserin zweier Gedichtbände, die bislang noch nicht bei uns erschienen sind, hat ihren ersten Roman „Fluchtstücke“ vorgelegt. Anne Michels ist Archäologin der Sprache, der Sinne. Sie weiß viel über Griechenland, die griechische Sprache, über Farben, über das Kochen. Wie viele Schichten hat ein Mensch? Was steckt hinter einer Katastrophe? Sie bahnt sich vor aller Augen an. Ihre Zeichen sind sichtbar. Salz, Kalkstein, Holz. Das Wissen der Menschheit. Schichten der Materie. Das Gedächtnis des Wetters. Tätowierungen der Seele.

Unsichtbare Verbindungen zwischen Materie und menschlichen Erfahrungen. Der sechsjährige polnisch-jüdische Jakob Beer hat den Mord an seinen Eltern miterlebt. Wo Bella, seine Schwester, ist, weiß er nicht. Dem griechischen Archäologen Athos Roussos gelingt es, den Jungen durch das vom Krieg zerrüttete Europa nach Griechenland zu bringen. Mehrere Jahre kann er ihn versteckt halten. Jakob lernt Griechisch, Englisch, Geologie, Archäologie. Von Athos erfährt er die Geheimnisse von Salz, Kalkstein und Holz. Er lernt nachzudenken über das Gedächtnis der Materie, über die Zeit, die scheinbar plötzlich auftretende Phänomene zustande bringt. Bella, seine Schwester, steht neben ihm an der Wand wie in den vielen Nächten vor dem entsetzlichen Erlebnis, das er Nacht für Nacht zu vergessen sucht. Athos sorgt für ihn. Ein Mensch wie Kalkstein, Spezialist für in Wasser konserviertes Holz. Athos wird Professor in Toronto. In Kanada freundet sich Jakob mit Salman an, er studiert, schreibt und übersetzt. Athos stirbt.

Jakob heiratet, aber er trennt sich wieder. Jahrelang lebt er allein in Athos' Haus auf der griechischen Insel Hydra. Vertieft in einsame Gespräche mit Bella und Athos beginnt er seine Geschichte zu schreiben. Und dann trifft er in der Küche Salmans Michaela. „Was hast du mit der Zeit gemacht... Meine Verzweiflung zergeht in der atmenden Dunkelheit... Ich habe mich verliebt im Lärm von klappernden Löffeln.“ Jakob und Michaela: „Bella, Bella: Einmal war ich in einem Wald verirrt... ich griff nach zwei Silben, die mir die nächsten sind, und ersetzte meinen Herzschlag durch deinen Namen.“

Jakob und Michaela sterben bei einem Unfall in Athen.

Ein gemeinsamer Freund, Sohn polnischer Juden, macht sich in Hydra auf die Suche nach Jakobs Tagebüchern und damit zur eigenen Kindheit, vom Grauen des Überlebens der Eltern gezeichnet.

Kühle Sätze über ein zutiefst poetisches Buch, dessen schmerzlichste Erfahrung die Gleichzeitigkeit ist. Ein unsichtbar dichtes Netz verknüpft auf magische Weise die Geschichte. Rosemarie Seidel

Anne Michels: „Fluchtstücke“. Berlin Verlag 1997, 366 S., 39,80 DM