Arbeitsverhältnisse in Singapur: Es kann nur besser werden

Die 27-jährige Sussie lebt von der Hand in den Mund. Dennoch ist sie mit ihrer Situation nicht unzufrieden. Sie glaubt an ihren Aufstieg - und an Singapurs starken Mann.

Auf der Orchard Road, der berühmten Hauptgeschäftsstraße Singapurs. Bild: reuters

SINGAPUR taz | "Willkommen!", ruft Sussie. Jeder erkennt sofort ihren Namen, denn Sussie trägt ein leuchtend oranges Namensschild auf der Brust, darunter ein schwarzes Polohemd der O-Big-Restaurantkette. Einladend weist sie auf die westlich gedeckten Tische. In der Hand hält sie eine Speisekarte bereit. "Willkommen! Willkommen!", ruft Sussie und lächelt. Immer wieder bleiben Leute stehen, mitten im Kaufhausgewühl an der glitzernden Orchard Road, der berühmten Hauptgeschäftsstraße Singapurs.

Sussie lockt Chinesen und Inder, Malaysier und Indonesier zu westlichem Essen. Sie verführt die Neureichen Asiens, die in Singapur Urlaub machen oder einfach nur an der Orchard Road einkaufen gehen. Sussie selbst zählt nicht zu ihnen. Sie ist Filipina und repräsentativ für die asiatische Unterschicht. Als Angestellte der O-Big-Restaurantkette in Singapur verdient sie umgerechnet 850 Euro im Monat. Davon muss sie sich selbst und sechs Angehörige ernähren.

Sussie ist damit der Typ, den westliche Touristen in dieser Gegend bisher bemitleidet haben - eine Arbeitssklavin der reichen Singapurer. Doch das Mitleid ist inzwischen fehl am Platz. Vieles spricht dafür, dass Frauen wie Sussie zu den Gewinnerinnen dieses Jahrhunderts zählen werden. Sie lebt in Singapur in einem Sozialsystem nach chinesischem Modell, in einem Staat, der sich seine Sozialleistungen leisten kann. Mit ihrer Familie wird es aller Voraussicht nach aufwärts gehen.

Der Stadtstaat: Der multiethnische Insel- und Stadtstaat Singapur mit heute fünf Millionen Einwohnern wurde 1965 gegründet. Damals spaltete der in Großbritannien ausgebildete Lee Kuan Yew die chinesisch dominierte Handels- und Finanzmetropole Singapur vom ärmeren und agrarisch geprägten Malaysia ab. Schon unter der britischen Kolonialmacht hatte sich das einst malariaverseuchte Seeräubernest entwickelt. Unter Lees Führung wandelte sich die südostasiatische Metropole dann zu einer effizienten und prosperierenden Ökodiktatur. Darin gibt die seit 1965 autoritär regierende People's Action Party unangefochten den Ton an. Die Opposition kommt zwar bei Wahlen auf rund 30 Prozent der Stimmen, wird aber durch das Wahlsystem benachteiligt und von Teilhabe weitgehend ausgeschlossen.

Die Ökodiktatur: Mittels Verleumdungsklagen, Medienzensur, Überwachung, Prügel- und Todesstrafe und einer Ideologie konservativer "asiatischer Werte" wird die Bevölkerung, die zu drei Vierteln aus Chinesen, 14 Prozent Malayen und 8 Prozent Indern besteht, auf Linie gehalten. Dafür genießt sie korruptions- und kriminalitätsfrei einen in der Region einmaligen Wohlstand mit hoher Bildung, exzellenter Infrastruktur und gesunder Umwelt. Seit 2004 regiert Lees ältester Sohn Lee Hsien Loong als Premier, während Lee bis Mai 2011 als "Mentorminister" weiter die Fäden zog. (han)

Sussie ist 27 Jahre alt. Eigentlich heißt sie Jesusa de Luna. Das verrät sie, nachdem Wendy Choh, die Besitzerin der O-Big-Restaurantkette, ihr für das Gespräch freigegeben hat. Choh, eine im Westen ausgebildete Psychologin, findet es gut, wenn sich ihre gestresste Angestellte einem Fremden gegenüber mal richtig auskotzen kann. Denn ihr Leben ist bisher ausgesprochen hart. Es gibt viele Dinge, über die Sussie Grund zur Klage hat.

Sussie wählt einen stillen Tisch in ihrem Restaurant. Sie bestellt nicht. Sie redet. Sussie hat zwei Töchter, drei und sechs Jahre alt. Seit neun Jahren ist sie mit einem Singapurer verheiratet, der 46 Jahre älter ist. Ihr 73-jähriger Mann besaß ein kleines Umzugsunternehmen. Da dachten Sussies Eltern auf den Philippinen, er sei eine gute Partie und arrangierten die Ehe. Sussie war das älteste von fünf Kindern. Sie heiratete mit 17 Jahren und sollte fortan in Singapur für die ganze Familie Geld verdienen. So hofften ihre Eltern. Sie hofften nicht vergeblich.

Philippinen - das ist Armut

"In den Philippinen hatten wir ein einfaches Leben. Dort waren die Sachen unglaublich billig", erzählt Sussie. Die Philippinen - das ist die nackte Armut. Doch die liegt heute weit hinter ihr. Nur wenn ihr Vater anruft, holt sie die Vergangenheit ein. "Er ist sehr krank", sagt Sussie. Deshalb hat sie ihm zu Weihnachten Geld versprochen. Ihre Eltern sind christlich. "Damit er die Hoffnung nicht verliert." Dafür schiebt sie nun Überstunden.

Doch den Vater zu Weihnachten besuchen - dafür reicht ihr Geld nicht. Denn längst ist ihr Mann als Verdiener ausgeschieden. Er hat seine Firma vor Jahren aufgegeben und besaß, wie in Singapur üblich, keine Altersvorsorge. Denn im chinesischen Sozialsystem kümmern sich in der Regel die Kinder um die alten Eltern. Seither verdient Sussie für ihren Mann. Außerdem muss sie ihre Mutter und einen Neffen ernähren, die mit ihr nach Singapur kamen, und ihre beiden Töchter. "Ich kann immer nur an den nächsten Tag denken", sagt Sussie. Dabei hat sie auch nach neun Jahren in Singapur nur eine Arbeitserlaubnis, keine feste Aufenthaltsgenehmigung. Findet sie keine Arbeit, muss sie das Land verlassen.

Mitten im Gespräch hält sie inne: "Ich habe nie eine Jugend gehabt. Ich weiß nicht, was Liebe bedeutet." Es klingt niederschmetternd, doch Sussie lächelt sogar bei diesem Eingeständnis. Denn ihre Geschichte hat zwei Seiten: Armut und Elend in den Philippinen gegen Aufopferung und Rechtlosigkeit in Singapur. "Natürlich ist das hier eine Diktatur für mich. Ich muss mich an jede Regel halten, sonst fliege ich raus."

Doch es gibt für Sussie noch ein zweites Leben. Es nährt sich aus dem Stolz auf ihre Arbeit, aus der Hoffnung für ihre Töchter und aus der Sozialpolitik Singapurs. "Singapur ist ein reiches, gutes Land. Die staatliche Schule, die meine ältere Tochter jetzt besucht, ist super. Schon wegen der Kinder will ich hierbleiben und dafür den Rest meines Lebens arbeiten."

Demokratie versus Sicherheit

Sussie vergleicht. Sie kennt die Demokratie auf den Philippinen. Sie weiß, dass ihre Verwandten zu Hause folgenlos auf die Regierung schimpfen, während die Singapurer schweigen, weil sie Repressalien fürchten. Das findet sie nicht gut. Doch sie hält die Regierung hier für verlässlicher und transparenter. In den Philippinen gab es nur leere Worte für die Armen. In Singapur profitiert Sussie von der Erziehungs- und Wohnungsbaupolitik.

Zum Feierabend nimmt sie den Bus Richtung Ghimmoh Road. Die Fahrt dauert nicht lang. Sie führt in ein riesiges Viertel mit Sportplatz und Einkaufszentrum. Hier wohnt Sussie in einem weißen Block mit 15 Etagen für eine Sozialmiete von 250 Singapur-Dollar, etwa 140 Euro. Sussie wohnt zu sechst mit Ehemann, Töchtern, Mutter und Neffe in einer Einzimmerwohnung. Sie hat die kleinste und billigste Wohnung, die der Staat zu vergeben hat. Sie führt vor ihre Haustür. Es gibt einen Fahrstuhl, Wasser, Strom, Dusche und WC. Alles funktioniert. Der Block ist frisch gestrichen, es liegt kein Müll herum und vor der Tür hält der Bus zur Orchard Road. "Die Beamten, die uns die Wohnung verschafft haben, haben uns sehr gut behandelt", sagt Sussie. Aber sie mag ihre Wohnung nicht zeigen. Sie will jetzt nicht ihrem Mann begegnen.

Stattdessen führt sie zum Büro des Vertreters der Regierungspartei. Die People's Action Party (PAP) regiert den Kleinstaat seit seiner Gründung 1965 ununterbrochen. Wahlen waren immer eine Farce, die Opposition war stets chancenlos, doch die PAP deshalb nicht faul. Sussies PAP-Mann heißt Christopher de Souza - Typ junger Strahlemann. Er sitzt an diesem Abend im Erdgeschoss eines Wohnblocks. Dort führt er Gespräche wegen einer Wohnungsvermittlung, wie er sie vor ein paar Jahren auch mit Sussie und ihrem Mann führte. Einmal die Woche hat de Souza drei Stunden Sprechstunde. Sussie sagt, er sei ein guter Mann. "Ich kann ihm eine E-Mail schicken und er antwortet immer." Er hat ihr auch bei der Einschulung der Tochter geholfen.

Sussie ergeht es wie den meisten Arbeitsmigranten in den chinesisch geprägten Einparteienstaaten Ostasiens, allen voran China, Vietnam und Singapur. In diesen Ländern können sich die einfachen Arbeiter und Angestellten nicht beschweren, sie haben keine Rechte und müssen harte Arbeitsbedingungen ertragen. Im Gegenzug bietet der Staat Grundleistungen wie Schulbesuch, Wohnung und eine Basis-Krankenversicherung. Viele hundert Millionen Menschen, mehr als jemals zur arbeitenden Bevölkerung Europas und der USA zählten, versuchen heute unter diesen Bedingungen zu reüssieren wie Sussie. "Wegen der Sprache wäre ich lieber in den USA, aber wegen der Wirtschaftslage bleibe ich lieber in Singapur", sagt sie.

Singapurs graue Eminenz

Würde er sie reden hören - Lee Kuan Yew würde es wohl gefallen. Der 88 Jahre alte Diktator, Staatsgründer und Vordenker Singapurs waltet heute als graue Eminenz im Kolonialpalast Istona im Zentrum Singapurs. Lee Kuan Yew ist eine Reizfigur für den Westen. Er hat zeit seines Lebens den konfuzianischen Anspruch vertreten, mit einer Staatselite besser zu regieren als mit einem demokratischen System. Heute fühlt er sich als Sieger. "Es gibt in Singapur nichts umsonst", sagt Lee mit Blick auf das von ihm geschaffene Sozialsystem, das China immer als Vorbild diente. Der Westen dagegen, so suggeriert Lee, habe sich mit seinen Ausgaben, auch im Sozialbereich, übernommen. "Einer muss immer bezahlen", sagt Lee über die Schuldenkrise.

Sussie gibt ihm recht. "Was immer Lee Kuan Yew macht, er tut es mit einem erkennbaren Grund." Sie meint, dass sie in Singapur immer weiß, woran sie ist, wann sie auf den Staat zählen kann und wann nicht. Diese Sicherheit ist selten geworden.

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