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Arbeitsmediziner über niedrigen Krankenstand"Viele halten sich mit Pillen fit"

Viele Arbeitnehmer meinen, sie müssten immer funktionieren, sagt Arbeitsmediziner Andreas Weber. Er warnt: Lediglich physische Anwesenheit von Kranken schade Arbeitgeber und Arbeitnehmer.

Funktioniert nur selten: sich fitschlucken mit Hilfe von Pillen. Bild: dpa
Matthias Lohre
Interview von Matthias Lohre

taz: Herr Weber, schleppen sich Millionen Arbeitnehmer aus Angst vor Jobverlust krank zur Arbeit?

Andreas Weber: Schon seit fast zehn Jahren ist der gemessene Krankenstand ja sehr niedrig. Das hat viele Gründe. Das hat auch mit der Furcht zu tun, seinen Arbeitsplatz zu verlieren. Aber allein hierdurch lässt sich dies nicht erklären.

Was haben Sie noch für Erklärungen?

Viele Arbeitnehmer haben das Gefühl, sie müssten 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche erreichbar sein. Sie meinen, immer funktionieren zu müssen. Und irgendeine Börse auf der Welt hat immer geöffnet. Wissenschaftlich redlich wäre es allerdings, wenn man jede Branche für sich bewerten würde. Dann sieht man nämlich, dass die Krankenstände durchaus unterschiedlich sind.

Können Statistiken heute noch verlässlich festhalten, warum sich jemand krankmeldet - oder eben nicht?

Schwierig. Die Forschung erkennt mehr und mehr, wie wichtig der subjektive Faktor beim Krankenstand ist: Wenn ein Arbeitnehmer subjektiv davon überzeugt ist, er könne nicht zur Arbeit kommen, dann bleibt er auch zu Hause. Gleichzeitig gibt es den Fall: Eine Sekretärin ist wegen Migräne krankgeschrieben. Sie mag aber ihre Kollegen und ihre Arbeit sehr, will sie nicht im Stich lassen und nichts hält sie zu Hause. Dann wird sie im Büro erscheinen.

Wie wichtig sind psychische Erkrankungen?

Sie spielen für das Arbeitsunfähigkeitsgeschehen eine große Rolle. Das hat unter anderem auch mit der Arbeitsverdichtung zu tun. Aber auch da ist die ganze Antwort nicht so einfach. Unter anderem gibt es heute mehr Psychologen und Psychotherapeuten als zu Beginn der Statistik 1970. Flapsig gesagt: Je größer das Angebot, desto größer die Nachfrage. Hinzu kommt: Mancher Arbeitnehmer wird seinen Arzt bitten, ihn für eine Woche krankzuschreiben, weil er einfach fix und fertig ist. Der andere aber wird sich mit Pillen fit zu machen versuchen - und am Arbeitsplatz lediglich physisch anwesend sein. In Fachkreisen spricht man da von "Präsentismus". Das schadet dann Arbeitgeber und Arbeitnehmer.

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7 Kommentare

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  • T
    tataa

    Wie passt sowas zumsammen?

     

    http://www.zeit.de/online/2009/16/krankenstand-rekordtief

    und

    http://www.zeit.de/2009/40/Krankschreibungen

     

    Antwort: Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft

    Es ist erbärmlich, wie sich ehemals angesehene Zeitungen verkauft haben.

    Kurz nach der Wahl erscheint so ein Artikel. Erbärmlich.

  • N
    nik

    @erika oczipa

    hat wohl recht. Die Leute sind erkrankt, können aber dies besser im Job ausleben als daheim.

    Bei den Singles ist keiner da der sich kümmert, bei den Müttern interessierts keinen, die eigentlich da wären.

    Lieber krank unter Kranken, als gesund und einsam.

    Dabeisein ist alles. Was sich da täglich zum Job schleppt, weil der soziale / familiäre Hintergrund diese Schwächen nicht mitträgt und man doch mithalten muss - wenn´s sein muss mit Pillen etc.

    DAS ist krank, dauerhaft und offenbar unheilbar.

    Eine Arbeitskultur die krank macht und von seiten der Betroffenen nur noch zynische Bemerkungen hervorruft - was bitte ist das?

    Richtig: verinnerlichtes Leistungsprinzip, mit der Dauerentschuldigung Hauptsache Arbeit.

    Würde mensch dieselbe Energie auf die Veränderung der Bedingungen verwenden wie auf die Pflege der Malessen - es wäre nicht so.

  • R
    Rod

    Pillen nur bei Krankheit? Ich arbeite in einem Callcenter und würde auch ohne akute Erkrankung die Arbeit ohne die tägliche Voltaren oder Ibuprofen nicht durchstehen, da mir vom unentwegten Mausgeklicke und hastigen Tastatureingaben am PC unter Zeitdruck sonst die Finger- und Handgelenke so schmerzen würden, dass ich kaum arbeiten könnte.

     

    Schmerzmittel sind sehr verbreitet im Betrieb, manch einer nimmt auch Ritalin.

     

    Als krank wird nur anerkannt wer bei der Arbeit vom Stuhl fällt und vom Krankenwagen abgeholt werden muss. Es wird sogar mit Fiebertemperaturen geprahlt mit denen man noch zur Arbeit gekommen ist.

     

    Schließlich gibt es noch den Teamvergleich der Krankenquoten und kein Mitarbeiter will der Verantwortliche dafür sein, dass das Team bei der Krankenquote schlecht abschneidet.

  • O
    ole

    "Viele halten sich mit Pillen fit..."

    Das wäre dann fast die Urform der Dopingdefinition? Heute freilich nicht mehr. Aber interessant ist es schon :-)

    Naja, war eigentlich auch nicht Kern des Artikels.

  • JK
    Juergen K.

    Kranke gepillte Arbeitnehmer kaufen Pharmaaktien und wollen höhere Krankenversicherungbeiträge.

     

    Wäre es nicht sowieso besser, erst mal von den Krankeversicherungbeiträgen die komplette Pharmabranche aufzukaufen ?

     

    Und von mir aus alles was mit privaten Krankenhäusern, Medizin und Altenversorgung zu tun hat.

     

    Einfach kaufen,

    Und Gut Is.

     

    Dann können die auch korrupt sein wie sie wollen.

    Denn die Gewinne sind auch schon drin.

  • E
    enno

    Ja ja, die Zeichen der Zeit. Arbeitnehmer machen sich für ihren oft unterbezahlten Job fertig und sind auch noch dankbar. Läuft doch alles bestens.

     

    Ergo, meine Renditen steigen und dank meines ausgeklügelten Portfolios im finalen Krankheitsfall noch mal.

     

    Also während ihr euch den Arsch aufreist, lass ich mir die Sonne auf den Bauch scheinen. Wenn ihr dann krank werdet, ändert dies nichts und meine Hand halte ich immer noch offen.

  • EO
    erika oczipka

    Nach meinen Erfahrungen gibt es noch eine Gruppe von Arbeitnehmern, die diesen statistischen Wert mit prägt. Das ist die große Gruppe der engagierten Singles, zu denen sich die Gruppe der verheirateten Frauen mit Mann und Kindern gesellt. Die Arbeitnehmer haben zuhause niemanden, der sich mit ihrer (meistens leichten) Erkrankung befasst. Gehen Sie trotz der Symptome, Schmerzen oder des Unwohlseins ins Büro, dann ist ihnen zumindest das Mitgefühl und Ernstgenommenwerden der Kollegen sicher, natürlich auch die Empfehlung, doch lieber zu Hause zu bleiben, also eine gewisse Art der Anerkennung und der Fürsorge. Das würden sie zu Hause wahrscheinlich nicht finden. Da müssen sie funktionieren oder sind allein wie die Singles, die überhaupt keinen Zuspruch erhalten.