piwik no script img

Arbeitslose in der TürkeiZurück aufs Land nach Anatolien

In der Türkei steigt die Arbeitslosenrate auf rund 25 Prozent. Betroffen sind besonders Arbeiter der ehemaligen Staatsmonopole und der Werften. Sie gehen zurück aufs Land.

Die Demonstranten in der Nähe der AKP-Parteizentrale in Ankara, kurz bevor die Polizei Pfefferspray einzusetzen begann. Bild: ap

ISTANBUL taz | Es waren schockierende Bilder, die da in den letzten Tagen des alten Jahres über die Bildschirme der türkischen Nachrichtenstationen flimmerten. Ältere Männer lagen niedergeschlagen auf einem zentralen Platz in Ankara, andere standen mit zerrissenen Kleidern mitten im Winter knietief im Wasser.

Was da gezeigt wurde, war Ergebnis eines Einsatzes, bei dem hunderte Polizisten der Spezialeinsatztruppen erbarmungslos auf völlig friedliche und harmlose Demonstranten einschlugen und sie mit Wasserwerfern traktierten. Dabei waren die Opfer dieses Polizeieinsatzes keine vermummten, Steine werfenden Linksradikale, sondern zumeist gestandene Familienväter in ihren Fünfzigern, die einem Aufruf von Türk-Is, dem eher konservativen, staatstreuen Gewerkschaftsdachverband gefolgt waren und in Ankara dafür demonstrierten, dass die Regierung früher gemachte Versprechen ihnen gegenüber einhielt.

Allen Demonstranten gemeinsam ist, dass sie bis jetzt in einem staatlichen Betrieb im Tabak- oder Alkoholsektor beschäftigt waren. Dieses frühere Staatsmonopol Tekel war vor Jahren von der Regierung aufgelöst und nach und nach privatisiert worden. Jetzt sind viele der früheren staatlichen Fabriken dichtgemacht und die Arbeiter auf die Straße gesetzt worden. Weil das bereits bei dem Verkauf der Fabriken absehbar war, hatte man die Beschäftigten mit dem Versprechen beruhigt, sie würden in anderen Staatsbetrieben Ersatzarbeitsplätze bekommen. Doch angesichts der Wirtschaftskrise kann oder will die Regierung diese Zusagen nicht einhalten.

Die Tekel-Arbeiter sind bei Weitem nicht die Einzigen, die in der Türkei derzeit auf der Straße stehen. Die Weltwirtschaftskrise hat am Bosporus weniger die Banken, dafür umso mehr die Beschäftigten erwischt. Während die Börse fast schon wieder auf ihrem Höchststand von 2007 angekommen ist, sind jeden Monat mehr Menschen ohne Arbeit. Nach offiziellen Statistiken sind es 13,5 Prozent.

Da mehr als die Hälfte der Beschäftigten aber ohne Sozialversicherung gearbeitet hat und folglich gar nicht registriert war, dürften die realen Zahlen nach Schätzungen der meisten Ökonomen eher bei 25 Prozent liegen. Bei Schul- oder Universitätsabgängern, die einen Job suchen, ist die Zahl noch höher. Der größte Teil der Industriearbeitsplätze hängt in der Türkei - wie in Deutschland - vom Export ab. In den Sektoren Textil, Autobau, Haushaltswaren und Schiffsbau ist der Export brutal eingebrochen.

Besonders dramatisch ist der Einschnitt im Schiffsbau. Die Werftgelände im Istanbuler Vorort Tuzla sehen heute völlig verwaist aus. Etliche Betriebe haben die Tore ganz geschlossen, in anderen werden mit einer kleinen Stammbelegschaft Restaufträge abgearbeitet. Cem Kaya, Generalsekretär von Limter Is, einer kleine Gewerkschaft für Werftarbeiter, die zum linken Gewerkschaftsdachverband DISK gehört, hat die Zahlen alle im Kopf. Von den 40.000 Arbeitern, die hier noch im Frühjahr 2008 beschäftigt waren, sind jetzt höchstens noch 15.000 übrig, sagte er gegenüber der taz. Da rund 80 Prozent der Arbeiter über Subunternehmen als Zeitarbeitskräfte in die Werften kamen, konnten sie sofort gefeuert werden. Eine soziale Absicherung gibt es nicht. Die Leute, meint Kaya, gehen zurück in ihre Dörfer und leben dort von der Subsistenzwirtschaft. Das gilt nicht nur für Werftarbeiter. Das Dorf und die Großfamilie sind nach wie vor die primären sozialen Auffangstationen. Einige Istanbuler Bezirke zahlen gestrandeten Arbeitssuchenden aus Anatolien sogar den Umzug zurück aufs Dorf, wenn sie nur bereit sind, zu verschwinden. J

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

9 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • DE
    d. e.

    etwas seltsames geht bei www.hurriyet.de vor.

     

    seit ca. drei wochen werden leser-kommentare überhaupt nicht mehr veröffentlicht bzw. freigeschaltet. dies betrifft kritische leserkommentare in bezug auf die politik der türk. regierung (insbesondere akp), türk. konsulate/türk. botschaft sowie kritische kommentare zu türkisch-stämmige politiker/innen in deutschland.leserkommentare wurden sogar nachträglich gelöscht.

     

    schriftliche anfragen blieben bisher von der "hurriyet.de" als auch "hurriyet.com.tr" redaktion unbeantwortet.

     

    anscheinend ist türkische kritik aus old-brd nicht erwünscht.

  • UR
    Uwe Richard

    Guter Artikel, der sauber aufzeigt was passiert, wenn der der Staat sich in die Wirtschaft einmischt, von der er in der Regel keine Ahnung hat. Sobald die Subventionen, die auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung fließen, ausbleiben, bricht das auf Illusionen und Ideologie basierende Kartenhaus erwartungsgemäß zusammen.

     

    Wer darf's ausbaden?

     

    Merke: Als Arbeiter bist Du immer der Arsch!

     

    Uwe Richard

  • A
    adAm

    Habt ihr mal den Artikel überhaupt gelesen und verstanden worum es da geht? Das sind Menschen, wie die MitarbeiterInnen von Opel oder Quelle.

    Wieso sollten diese Menschen in die "REICHE BRD" kommen? Hier werden sie, wie viele andere auch, nur verachtet und diskriminiert.

    Genauso wie die "Deutschen" die nach dem Krieg aus Ostpreußen, Königsberg oder Danzig kamen.

    Diese Kommentare sind doch nur Ausdruck des beschränkten Horizonts dieser Personen und es ist beschämend. Es werden nicht die Menschen gesehen die auf Situationen reagieren müssen (es geht um ihre Existenz!!!) für die sie selbst nicht verantwortlich sind. Oh, da kommen evtl. Menschen die nehmen uns was weg. Unsere Lebensmittel, unsere Frauen, unsere Arbeit...kein Wunder das es Solingen, Hoyerswerda usw. gab. Vielleicht sollten wir uns alle an die eigene Nase greifen und hoffen, wenn wir in solche Situationen kommen, dass wir auf Solidarität, egal von wem, zählen können.

  • P
    Philipp

    @karnevalist

    was für ein großartig produktiver Kommentar.

  • K
    karnevalist

    Ach, lasst sie doch zu uns in die REICHE BRD kommen!

    "Wir" brauchen doch bei den wenigen Erwerbslosen hier noch dringend Zuwanderer. Die Kommunen freuen sich schon, können sie doch dann mehr Geld für die ARGEn drucken...

  • B
    Bürger

    Ein Land, das sein gesamtes Vermögen in Waffen steckt, vergisst seine Bürger...

  • W
    wolfgang

    mir schwant übles ! !wer weiss was ich meine?

  • K
    Kritiker

    Warte nur auf Forderungen der Grünen, die Menschen hier in Deutschland aufzunehmen. Immerhin sind das paar Millionen potenzielle Grünen/SPD Wähler.

    Paar Millionen Türken mehr ertragen unsere Sozialsysteme doch bestiit noch..l

    Ich fordere eine Aufnahme in der BRD!

  • H
    Helen

    Dass die "soziale" Politik der AKP in Entlassungen und Polizeiterror entartet, zeigt, dass die gutgläubigen islamischen Wähler ihren Glauben verloren haben und zu einer revolutionären Haltung gereift sind.

     

    Vertrauen und Glauben macht ökonomisch wie politisch impotent, Vordenken und Handeln allein kann helfen.

     

    Was lange gärt, wird endlich Wut.

     

    Ich wünsche der Türkei bei der Rückkehr zur Aufklärung gute Fortschritte! Rückkehr zur Aufklärung könnte für die Türkei sogar die derzeit versperrte Tür der EU wieder öffnen.