Arbeitsgericht kippt Tarifeinheit: Sieg der kleinen Gewerkschaften
Künftig können mehrere Tarifverträge im gleichen Unternehmen gelten. Arbeitgeber und DGB kritisieren den Richterspruch scharf. Mit dem Urteil ändert sich auch das Streikrecht.
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat das jahrzehntelang geltende Prinzip "Ein Betrieb - ein Tarifvertrag" aufgegeben. Künftig können also im gleichen Unternehmen mehrere Tarifverträge mit verschiedenen Gewerkschaften nebeneinander gelten. Dies nützt vor allem kleinen Gewerkschaften wie der Lokführer-Vereinigung GDL. Arbeitgeberverbände und DGB-Gewerkschaften kritisierten das Urteil scharf.
Tarifeinheit bedeutet, dass es in einem Betrieb nur einen maßgeblichen Tarifvertrag geben kann. Gelten soll jeweils der Vertrag, der dem Betrieb sein "Gepräge" gibt. Faktisch schauten die Gerichte vor allem, welche Gewerkschaft im Konkurrenzfall die meisten Mitglieder im Betrieb organisiert hatte. Die Tarifeinheit wurde vom Bundesarbeitsgericht 1957 aus praktischen Gründen "erfunden", um das Tarifgeschehen übersichtlich zu halten.
Viele Arbeitsrechtler haben das Prinzip der Tarifeinheit schon lange kritisiert. Schließlich garantiert das Grundgesetz jedem Bürger, sich zur Gestaltung der Arbeitsbeziehungen mit anderen in einer Gewerkschaft zusammenzuschließen. Eine Bevorzugung der großen DGB-Gewerkschaften ist dort nicht vorgesehen.
Die Änderung der Rechtsprechung war abzusehen. Bereits im Januar hatte der 4. BAG-Senat die neue Linie angekündigt. Zuvor musste er jedoch den 10. BAG-Senat um Erlaubnis fragen, weil dieser noch 2006 an der Tarifeinheit festgehalten hatte. Gestern kam nun das grüne Licht vom 10. Senat. Damit hat die Tarifeinheit im Arbeitsrecht vorläufig ausgedient.
Die Richter begründen ihren Schritt mit dem Tarifvertragsgesetz. Dort sei die Tarifeinheit nicht vorgeschrieben und es gebe auch keine Lücke, die von der Rechtsprechung zu füllen wäre. Faktisch erklären sie damit ihre eigene über fünfzigjährige Rechtsprechung für falsch.
Im konkreten Fall hatte ein Arzt geklagt, der der Ärztegewerkschaft Marburger Bund angehört. Er forderte im Jahr 2005 Urlaubszuschläge ein, die ihm nach einem Tarifvertrag zustanden, den der Marburger Bund mit ausgehandelt hatte. Der Arbeitgeber hielt ihm entgegen, dass es inzwischen einen Tarifvertrag mit der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di gebe, der den Vertrag des Marburger Bundes verdränge. Nun gilt also für die im Marburger Bund organisierten Ärzte dessen Tarifvertrag weiter, während für die von Ver.di organisierten Krankenschwestern und -pfleger der Ver.di-Tarifvertrag Anwendung findet. Die nichtorganisierten Beschäftigen sind wie bisher auf das Wohlwollen des Arbeitgebers angewiesen.
Auswirkungen hat die neue Linie auch auf das Streikrecht. So wurde zum Beispiel der GDL mehrfach von Gerichten das Recht abgesprochen, für einen eigenen Tarifvertrag zu streiken. Weil ein GDL-Tarifvertrag ohnehin vom Tarifvertrag der DGB-Gewerkschaft Transnet verdrängt würde, sei ein GDL-Streik schon im Ansatz rechtswidrig, hieß es. Beim letzten Arbeitskampf der Lokführer 2007 durfte die GDL am Ende dann aber doch für einen eigenen Tarifvertrag streiken, entschied damals das Landesarbeitsgericht Chemnitz. Erst müsse ja mal ein Tarifvertrag vorliegen, um zu sehen, ob er spezieller ist als ein anderer Vertrag. Solche Winkelzüge sind jetzt nicht mehr nötig, wenn das Prinzip der Tarifeinheit nicht mehr gilt.
Die DGB-Gewerkschaften fürchten aber, dass sich dann immer mehr besonders streikfähige Gruppen wie Lokführer, Piloten oder Ärzte aus der Tarifsolidarität verabschieden und ihre Streikmacht nur noch für eigene Interessen einsetzen. Und die Arbeitgeber argwöhnen, dass es ohne Tarifeinheit viel mehr Streiks gebe, weil ständig irgendein Tarifvertrag ausläuft und dann jede Kleingruppe für ihren jeweils neuen Vertrag kämpft.
Arbeitgeber und Gewerkschaften schlagen deshalb vor, das Prinzip der Tarifeinheit jetzt ausdrücklich im Gesetz festzuschreiben. Damit würde die neue Linie des BAG ausgehebelt. Es ist aber zweifelhaft, ob ein derartiges Gesetz verfassungskonform wäre. Inzwischen sagt sogar das Bundesarbeitsgericht, dass eine staatliche Pflicht zur Tarifeinheit gegen das Grundgesetz verstoße, weil es die Arbeit kleiner Gewerkschaften behindere.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe