Antikorruptionsbehörden und Selenskyj: Kehrtwende dank der EU und der ukrainischen Zivilbevölkerung
Das missliche Hin und Her um die Antikorruptionsbehörden schadet der Ukraine. Dabei hat die das Land eigentlich ganz andere Probleme.
I mmerhin: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist doch noch zur Besinnung und zu Bewusstsein gekommen. Zu dem Bewusstsein, dass es heutzutage in der Ukraine ganz offensichtlich nicht mehr möglich ist, mal eben im Schnelldurchgang zwei wichtige Antikorruptionsbehörden abzuwickeln und an die Kandare zu nehmen – frei nach dem Motto: Merkt doch keiner. Von wegen.
Dass der Westen, allem voran die Europäische Union, deutliche kritische Worte fand und unter Androhung eines Stopps aller Finanzhilfen massiven Druck ausübte, ist eine Sache. Übrigens: Ein Blick nach Georgien hätte nützlich sein können. In der Südkaukasusrepublik ist zu beobachten, wohin es führen kann, demokratische Werte mit Füßen zu treten: geradewegs in Richtung Moskau – der Regierungspartei Georgischer Traum sei „Dank“.
Mindestens genauso wichtig für Selenskyjs Sinneswandel ist jedoch die ukrainische Zivilgesellschaft. Sie ist wachsam, fordernd, resilient und ungebrochen widerständig. Nicht zuletzt das ist, wie auch die beiden Antikorruptionsbehörden, ein Erbe der „Revolution der Würde“ auf dem Maidan 2013/14. Warum sollten sich die Ukrainer*innen diese Errungenschaften, für die über 100 Menschen ihr Leben gelassen haben, ein zweites Mal nehmen lassen?
Umso bemerkenswerter ist es, dass auch dreieinhalb Jahre Krieg, der noch lange dauern könnte, diese Entschlossenheit nicht erschüttern können. Militärisch läuft es für Kyjiw vor allem an der Front im Osten mäßig bis schlecht. Die Gründe dafür sind bekannt und auch bei den westlichen Verbündeten zu suchen. Doch wo stünde das Land, gäbe es sie nicht, die zahllosen Ukrainer*innen, die, wohlgemerkt ohne Waffen, ihren Beitrag zum Kampf gegen den russischen Aggressor leisten und dafür sorgen, dass ein Leben unter ständigem Beschuss überhaupt noch möglich ist.

Die taz ist eine unabhängige, linke und meinungsstarke Tageszeitung. In unseren Kommentaren, Essays und Debattentexten streiten wir seit der Gründung der taz im Jahr 1979. Oft können und wollen wir uns nicht auf eine Meinung einigen. Deshalb finden sich hier teils komplett gegenläufige Positionen – allesamt Teil des sehr breiten, linken Meinungsspektrums.
An Glaubwürdigkeit verloren
Wenn jetzt Selenskyj schwadroniert, wie wichtig es sei, auf die öffentliche Meinung zu hören, so hätte er besser geschwiegen. Das kaufen ihm seine Landsleute ohnehin nicht länger ab. Nun geht es, nach einer erneuten Abstimmung im Parlament über das Antikorruptionsgesetz am Donnerstag, also wieder zurück auf Los. Zwar ist in der Ukraine beim Kampf gegen Korruption noch reichlich Luft nach oben, dennoch haben die zuständigen Behörden bereits einiges auf der Habenseite.
Jüngstes Beispiel dafür ist der Urteilsspruch eines Londoner Gerichts gegen Ihor Kolomojskyj. Der milliardenschwere ukrainische Oligarch, der seinerzeit als Hauptaktionär der Privatbank zwei Milliarden Dollar veruntreut hatte, muss für die Summe haften. Daran hat auch Wolodymyr Selenskyj seinen Anteil. Dass er gegen seinen ehemaligen Förderer und Gönner vorgehen würde, war nicht unbedingt zu erwarten.
Dennoch bleibt unterm Strich, dass der Präsident nachhaltig beschädigt ist – allen anderen Verdiensten zum Trotz. Das hätte er wahrlich nicht gebraucht und die Ukraine schon gar nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!