piwik no script img

Antikapitalistische Muslime„Erdoğan ist kein frommer Mann“

İhsan Eliaçık zweifelt an dem Gottesglauben des Staatspräsidenten. Der Theologe ist ideologischer Vater der antikapitalistischen Muslime.

Im Gespräch: İhsan Eliaçık von den Antikapitalistischen Muslimen Foto: Diken

Es sind nur noch wenige Wochen bis zu den wohl brisantesten Wahlen in der Geschichte der türkischen Republik. Bereits in früheren Wahlkämpfen ist Recep Tayyip Erdoğan bei Kundgebungen mit dem Koran in der Hand aufgetreten, auch diesmal bedient er sich unablässig islamischer Rhetorik. Doch vertritt der Staatspräsident tatsächlich die Interessen aller Muslime in der Türkei? Auf der Suche nach Alternativen zum von der AKP propagierten Islamverständnis stößt man auf die Bewegung der Antikapitalistischen Muslime. Sie wurden landesweit bekannt, als sie im Sommer 2013 während der Gezi-Proteste ein Fastenbrechen (Türkisch: Iftar) auf der Istiklal und dem Taksim-Platz veranstalteten, an dem Tausende teilnahmen.

Ihsan Eliaçık, islamischer Theologe und Autor, ist der ideologische Vordenker dieser Bewegung. taz.gazete sprach mit ihm über das Islamverständnis des Staatspräsidenten, wie Muslime in der Türkei die Regierung sehen und was genau hinter der Bewegung der Antikapitalistischen Muslime steckt.

taz.gazete: Was unterscheidet Ihre Bewegung von anderen islamischen Gruppen?

Ihsan Eliaçık: Das erste Fastenbrechen auf der Straße haben wir 2011 vor dem Conrad-Hotel in Beşiktaş veranstaltet, um gegen in Luxus schwelgende Muslim*innen zu protestieren. In Balat, einem der älteren Istanbuler Stadtteile, befindet sich der Sitz unseres Vereins „Kapitalizmle mücadele Derneği“ (zu Deutsch etwa: Verein im Kampf gegen den Kapitalismus). Hier veranstalten wir Tagungen, Panels und Vorträge, um Menschen zu erklären, dass der Islam in seinem Kern eine Religion ist, der den Kapitalismus ablehnt. Man kann die Antikapitalistischen Muslime als 'die linke Seite’ des Islam bezeichnen.

Dann ist also Staatspräsident Erdoğan nicht der einzige Politiker, der die Muslim*innen in der Türkei vertritt?

Selbstverständlich nicht. Bedenken wir, dass die AKP bei den vergangenen Wahlen rund 40 Prozent der Stimmen erhalten hat, machen vielleicht zehn Prozent die orthodoxen Muslime aus, die zum Beispiel für die Einführung der Scharia in der Türkei eintreten. Die restlichen 30 Prozent sind durchschnittliche Bürger, nicht sonderlich fromme Muslime, die man politisch eher Mitte-Rechts einordnen würde.

Und wie gelingt es Erdoğan, sich die Stimmen sowohl der Orthodoxen als auch der durchschnittlichen Muslime zu sichern?

Er hält sie mit Freiheitsversprechen bei der Stange und verspricht diversen Orden und Sekten, sie nicht zu verbieten. Würde Erdoğan seine wahren religiösen Ansichten offenbaren, würden ihm diese Gruppen alle davonlaufen.

Was sind denn Erdoğans „wahre“ Ansichten?

In einer seiner Reden sagte Erdoğan über Imame, dass sie unfähig seien zu begreifen, dass der Islam Reformen brauche. Als Kritik laut wurde, machte er einen Rückzieher. Wäre Erdoğan beharrlich geblieben, hätte er ernsthaft Probleme bekommen.

Wieso?

Ihm wären die orthodoxen 10 Prozent abhanden gekommen, die nicht offen sind für Neuerungen oder kritisches Hinterfragen. Erdoğan hat ein oberflächliches Religionsverständnis. Um seine Wähler*innen nicht zu verlieren, hält er sich meist bedeckt, macht eher neutrale Aussagen und adressiert keine muslimischen Gruppen, die den Islam unterschiedlich auslegen. Auf diese Weise wahrt er den Frieden.

Gibt es denn keine Spaltungen innerhalb der Muslime, die Erdoğan unterstützen?

In letzter Zeit schon. Ein Grund dafür ist die Annäherung zwischen der AKP und der MHP. Das führt zu einer Spaltung unter den muslimischen Kurd*innen, die früher Erdoğan gewählt haben und sich an dem nationalistischen Bündnis stören. Allerdings geht es nicht nur den Kurden so. Auch Muslime, die allergisch auf den wieder erstarkenden Nationalismus reagieren, wenden sich von der AKP ab. Vollends verloren sind nach dem Putschversuch vom 15. Juli auch die Anhänger*innen der Gülen-Bewegung.

Könnte dieser Bruch die AKP bei den anstehenden Wahlen in Schwierigkeiten bringen?

Erdoğan ist nicht mehr auf die Stimmen der orthodoxen Muslime angewiesen. Inzwischen setzt er auf die Wähler, die politisch in der Mitte und eher rechtsnational zu verorten sind. Die nehmen es nicht so genau mit der Religion.

Ist Erdoğans religiöse Rhetorik aber nicht ein bisschen zu heftig für die Bevölkerung, die Sie Mitte-Rechts nennen?

Erdoğan ist kein frommer Mann. Er hat sich irgendwo zwischen Islamismus und Nationalismus positioniert. Ich denke sogar, dass er nicht einmal an die Existenz Gottes glaubt. Er glaubt nur an eines, und zwar an seine Machtposition. Erdoğan ist ein Kapitalist, der zugleich die rituellen Waschungen vornimmt. Hätte der Islam ihm nicht Ruhm und Reichtum eingebracht, hätte er den Islam nie zu seinem politischen Thema gemacht.

Rein theoretisch verträgt sich der Islam ja nicht mit nationalistischen Ideologien.

Richtig, im Allgemeinen lehnt der Islam den Nationalismus ab. In der Türkei ist die Lage aber ein bisschen anders. Hier gehen Religion und Nationalismus Hand in Hand. Jeder türkische Islamist ist auch ein wenig nationalistisch. Erst nahm Erdoğan Friedensgespräche mit den Kurden auf (und instrumentalisierte den Islam als verbindenden Punkt, Anm. d. Red.). Als ihm klar wurde, dass hier nicht genug Stimmen zu holen sind, wandte er sich den türkischen Nationalisten zu.

Und was ist mit den muslimischen Frauen? Immerhin verdankt die AKP ihnen den Großteil ihrer Wahlerfolge.

Auch muslimische Frauen machen sich stark für ihre Rechte und kämpfen gegen die Regierung und die von ihr oktroyierte Auffassung vom Islam. Darunter gibt es auch Frauen mit feministischen, ja sogar mit anarchistischen Tendenzen. Allerdings sind sie nicht in Strukturen wie Sekten oder Orden organisiert. Sie agieren allein und unabhängig.

Warum sind muslimische Frauen nicht organisiert?

Die meisten haben gegen ihre Gemeinde rebelliert oder sind vielleicht sogar ausgestiegen. Solange das System der unbedingten Gefolgschaft existiert, ist es innerhalb einer Gemeinde oder eines Ordens auch kaum möglich, Kritik zu üben. Sie würden sofort ausgegrenzt werden.

Die Geschichte des Islam ist voller Narrative darüber, wie die Religion sich gegen Unterdrückung und Repression aufgelehnt hat. In der Türkei dagegen finden wir eher das Profil von Muslim*innen, die sich, wie Sie sagen, nicht gegen herrschendes Unrecht engagieren. Warum ist das so?

Eigentlich sind alle Religionen in Auflehnung gegen Unrechtmäßiges entstanden. Später aber instrumentalisierten Reiche und Mächtige sie als Mittel, um das Volk zu beherrschen. Es gibt zwei Arten von Religion: die der Unterdrücker und die der Unterdrückten. Auch in der Türkei sollten die Muslime auf der Seite der Unterdrückten stehen. Allerdings herrscht in der Gesellschaft noch die traditionelle Vorstellung der Stammeszugehörigkeit. Nach dem Motto: Wenn die Regierung von unserem Stamm ist, dürfen wir sie nicht kritisieren.

Sie wurden wegen Terrorpropaganda zu einer Haftstrafe verurteilt. Ist das, was Sie tun, Propaganda für eine Organisation?

In einer Rede habe ich die Militäreinsätze in den kurdischen Städten im Südosten der Türkei kritisiert. Unter anderem, dass dabei eine 70-jährige Frau getötet wurde und man tagelang nicht zuließ, dass ihr Leichnam von der Straße geholt wird. Oder dass die Leiche eines Zivilisten an einem Panzerfahrzeug befestigt durch die Stadt geschleift wurde. Dafür bekam ich 6 Jahre und 3 Monate Haft. Das Urteil muss aber noch bestätigt werden, solange darf ich Istanbul nicht verlassen.

Weshalb sind Sie ins Visier der Justiz geraten?

Seit Jahren kritisiere ich Erdoğans Auslegung des Islam. Selbstverständlich konnten sie mich dafür nicht bestrafen, denn aus islamischer Sicht stimmt meine Kritik. Es blieb nur eine Möglichkeit, nämlich mir Terrorismus anzuhängen, so wie sie es auch bei anderen Dissidenten machen. Man versucht, mich mit dem Vorwurf, dass ich Terror unterstütze, zu diskreditieren.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen