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Archiv-Artikel

Antibourgeoise Integration

Es gibt bei Mensch, Tier und Pflanze nicht nur das Überleben des Tüchtigsten, wie es Charles Darwin einst postuliert hat. Auch durch Symbiose lässt sich überleben und Neues schaffen

VON HELMUT HÖGE

Die 1900 veröffentlichte Evolutionstheorie „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ von Peter Kropotkin wird immer wieder neu aufgelegt. Sie war gegen Charles Darwin gerichtet, der als Motor der Entwicklung der Arten die Konkurrenz und das „Überleben der Tüchtigsten“ ausgemacht hatte. Nachdem 1859 Darwins Hauptwerk, „On the Origin of Species by means of Natural Selection“, erschienen war, hatten bereits Marx und Engels gewitzelt, der Autor habe dabei bloß das üble Verhalten der englischen Bourgeoisie auf die Tier- und Pflanzenwelt projiziert.

Kropotkin ging in seiner Darwin-Kritik noch einen russischen Schritt weiter: Dort war Darwin in sozialistischen Kreisen überaus populär, weil es nach ihm kein begründetes Hochwohlgeboren mehr geben konnte. Auch dass der Mensch vom Affen abstammen sollte, gefiel den Russen; nichtsdestotrotz akzeptierten sie Darwins Konkurrenzprinzip nicht: Dies sei bloß englisches Insel- bzw. Händlerdenken, hieß es. Und in der Tat hatte Darwin sein Evolutionsmodell erstmals auf den Galapagosinseln umrissen, wo die Arten auf kleinstem Raum leben mussten. Ganz anders dagegen in Sibirien, das Kropotkin erforschte und wo er eher auf Tiere und Pflanzen gestoßen war, die einander in der unendlichen Weite suchten, um gemeinsam leichter zu überleben. „Bei Kropotkin finden wir geradezu paradigmatisch eine Art Umkehreffekt gegenüber dem damaligen Sozialdarwinismus“, heißt es dazu in einem Beitrag von Reinhard Mocek in einem Buch über Symbiosen, um das es mir hier geht.

Wenn das Zusammenfinden von Individuen derselben oder unterschiedlichen Arten zu einer dauerhaften Kooperation führt, spricht man von einer Symbiose. Und die ersten Symbioseforscher waren Russen. Zwar gibt es auch eine Symbioseforschung in den USA, vor allem von der Mikrobiologin Lynn Margulis forciert, aber sie hat selbst vor einigen Jahren das Buch der russischen Wissenschaftshistorikerin Lija Khachina ins Amerikanische übersetzen lassen, das sich mit der (russischen) Geschichte der Theorie von der Symbiogenese beschäftigt, die um 1900 vor allem unter Botanikern begann und bis heute dort fortgeführt wird.

Inzwischen vergeht kein Tag, an dem nicht irgendwo auf der Welt Biologen eine neue Symbiose entdecken. Die russische Forschung richtete sich zunächst auf Flechten, die aus nichts anderem bestehen als aus einem Pilz und einer Alge – die sich zusammengetan haben, um auch noch in der Arktis gedeihen zu können. Andere Pflanzen und Tiere verbünden sich, um in der größten Wüstenhitze zu überleben. Und im nährstoffarmen tropischen Regenwald ist etwa die Orchidee gleich mehrere Symbiosen mit verschiedenen Kleinstlebewesen und Insekten eingegangen – zur Nahrungsaufnahme sowie zur Fortpflanzung. Die französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari haben daraus ein ganzes postmodernes Beziehungs- und Organisationsmodell gemacht: „Werdet wie die Orchidee und die Wespe!“

Inzwischen ist es schon beinahe unumstritten, dass auch die „Kraftwerke“ in unseren Körperzellen einmal als Bakterien dorthin gelangt sind: Statt sie zu verdauen, wurden sie integriert, wobei sie nach und nach ihre genetische Individualität verloren und zu Symbionten wurden – also zu Organellen (Orgänchen). Nicht in einem Wirts-Gast-Verhältnis, sondern als Geber und Nehmer.

„Als eigentliche Urheber der Theorie des symbiogenetischen Ursprungs kernhaltiger Zellen gelten heute die russischen Biologen Andrej S. Famincyn (1835–1918) und Konstantin S. Mereschkowskij (1855–1921)“, schreiben die Autoren des 751 Seiten dicken Buchs mit dem Titel „Evolution durch Kooperation und Integration“. Ihr Werk lässt diesbezüglich nichts zu wünschen übrig: Es beginnt mit den Originaltexten von Famincyn und Mereschkowskij aus dem Biologischen Centralblatt Erlangen. „Im Verhältnis zur Selektionstheorie Darwins betrachtete Famincyn die Symbiogenesetheorie als eine wesentliche Ergänzung, während Mereschkowskij sie als Alternative verstanden wissen wollte.“ Dem folgen Biografien und Diskussionen einzelner Aspekte der Symbioseforschung.

„Im Laufe der Evolution wurden Gene des Endosymbionten in das Kern-Genom übernommen“, heißt es im Geleitwort des Kölner Molekularbiologen Lothar Jaenicke. Durch diese Form einer „friedlichen Übernahme“ entsteht eine Abhängigkeit (zum Beispiel des Mitochonten von der ihn umgebenden Körperzelle), nichtsdestotrotz „ergänzen die miteinander lebenden Wesen sich“, meint Jaenicke, sodass „aus beiden Partnern mehr als ihre Summe wird, wie sie in einer perfekten Ehe auf Dauer Eigenheiten ablegen und annehmen – bis das der Tod sie scheidet.“ Im klassischen Altertum soll symbios bereits ein Wort für Ehegatte gewesen sein. Im längsten Text des Buches – über die Erforschung der Blaualgen – heißt es dazu ergänzend von Dieter Mollenhauer: „Irgendwie lässt sich immer feststellen, dass es den beiden prospektiven Symbiosepartnern nicht besonders gut gehen darf, wenn das Zusammenspiel erfolgreich etabliert werden soll.“

Zudem versuchen sie, auch noch mit anderen Lebewesen zu kooperieren: So haben etwa verschiedene Pilze und Amöben schon früher mit „Entocytobiosepartnern experimentiert und tun dies offenbar auch weiterhin“. Neben einer solchen „Untreue“ gibt es noch eine weitere Parallele zwischen diesen und menschlichen Symbiosen: „Die Grenzen zwischen Beute und Partner sind fließend“ (Eberhard Schnepf). Die Ursprünge der Symbiosetheorie – dieser neuen oder anderen Sicht auf das Leben, gehen auf eine kleine Gruppe „russischer ‚Querdenker‘ “ zurück, heißt es abschließend im Geleitwort. Das Buch reiht sich ein in eine ganze Serie von veröffentlichten und noch nicht veröffentlichten deutschen Wissenschaftsgeschichten, die sich mit der einstigen russisch-sowjetischen Avantgarde in Kunst, Literatur, Architektur und Wissenschaft beschäftigen. Und noch sind längst nicht alle „Schätze des Kreml“ gehoben.

Armin Geus, Ekkehard Höxtermann (Hg.): „Evolution durch Kooperation und Integration“. Basilisken-Presse, Marburg/Lahn 2007, 751 Seiten, 96 Euro