Anti-Missbrauchs-Kampagne: Sexualisierte Gewalt wie eine Epidemie
Die Kampagne "Sprechen hilft!" war nach dem Bekanntwerden einer Vielzahl von Missbrauchsfällen gestartet worden. Jetzt stellte die Unabhängige Beauftragte Christine Bergmann eine erste Bilanz vor.
Es mutet an wie ein Dammbruch. Seit die Unabhängige Beauftragte für die Aufklärung des sexuellen Missbrauchs, Christine Bergmann, ihre sprechen-hilft Kampagne startete, stehen die Telefone nicht mehr still. Seit September meldeten sich 5.000 Menschen, um über ihre erlittene sexuelle Gewalt zu sprechen. Es gibt aber immer öfter Hinweise auf akute Fälle. Damit hat sich die Zahl der Anrufer pro Monat verneunfacht. „Die Gesellschaft muss viel über Missbrauch lernen“, sagte Bergmann der taz, „aber sie tut es auch.“
Die Fälle liegen manchmal Jahrzehnte zurück, weil die Betroffenen große Scham empfinden. Sie haben auch Angst davor, als Mitschuldige denunziert zu werden. Der Vater eines Missbrauchsopfers sagte, ein Trauma-Therapeut haben seinem Sohn augenzwinkernd mitgeteilt, man könne dabei auch Lust empfinden. Der wehrlose Junge war in einer Behinderteneinrichtung von einem Mitschüler 60 Mal vergewaltigt worden.
Die Unabhängige Beauftragte war im März berufen worden, nachdem zunächst in vermeintlich erstklassigen katholischen Einrichtungen wie dem Berliner Canisius-Kolleg oder dem Kloster Ettal eine Vielzahl von Missbrauchsfällen bekannt geworden war, später die reformpädagogisch orientierte Odenwaldschule mit einem regelrechten Missbrauchssystem Schlagzeilen machte. Die Fälle lagen jeweils Jahrzehnte zurück. Inzwischen richtet sich der Fokus Hilfesuchender mehr auf die Familie, dennoch ist der institutionelle Missbrauch ein Phämomen, das die Gesellschaft erst jetzt zu erkennen beginnt.
Die wissenschaftliche Begleitung von Frau Bergmann hat herausgefunden, dass 47 Prozent der Fälle in katholischen Einrichtungen stattfinden. In den Institutionen wie Kirchen, Heimen, Internaten oder Schulen werden sehr häufig Jungen missbraucht. Der Vertreter eines Missbrauchten, Henning Stein, mahnte die Institutionen, den Satz „bei uns gibt es so etwas nicht“ nicht mehr zu verwenden. „Die Parallelwelten des Missbrauchs dürfen keine eigenen Spielregeln mehr beanspruchen“, sagte Stein. „Missbrauch ist ein allgegenwärtiges soziales Phänomen, eine Epidemie.“ Laut einer englischen Studie erleiden bis zu zehn Prozent der Mädchen und fünf Prozent der Jungen schwerwiegende sexuelle Gewalt durch Penetration.
Gabriele Gawlich von „Mogis - Eine Stimme für Betroffene“ forderte, die Täterstrategien in den Mittelpunkt Aufklärung zu rücken: „Manipulieren, Separieren und Entmenschlichen“. Sie will, dass die Betroffenen einen festen Platz am Runden Tisch bekommen. Gawlich und Stein hatten zusammen mit sechs weiteren kürzlich an einer Betroffenen-Anhörung des Runden Tischs für Missbrauch teilgenommen. Das sei ein Befreiungsschlag gewesen, sagte Henning Stein, „weil ich nie erwartet hätte, das Thema auf Augenhöhe mit Ministern besprechen zu können.“ Dennoch sei dies nur der erste Schritt, ergänzte Gawlich: „Die Gesellschaft versagt im Umgang mit den Betroffenen – auch wenn ihr das nicht bewusst ist.“ Der Runde Tisch wird von den Bundesministerinnen für Justiz, Bildung und Familie geleitet.
Dennoch gab es auch scharfe Kritik der Betroffenen. Ausgerechnet bei der Betroffenenanhörung waren 30 der 60 Mitglieder des Runden Tisches nicht erschienen. „Es hat alle der Betroffenen erschrocken, ja böse gemacht, dass es wichtigere Termine gibt“, teilte ein anonymer Betroffener aus der Odenwaldschule in einer verteilten Erklärung mit. Diese Leute seien „für die weitere Teilnahme überflüssig“. Der Betroffene moniert, dass „ausgerechnet Lehrer- und Internatsverbände, Pädagogische Vereinigungen und selbst die Vorsitzende des Runden Tisches Heimerziehung, Antje Vollmer, sich in Nichbeachten, Negieren und Herunterspielen üben.“
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