Anti-Brexit-Demo in London: Er hätte damals „Remain“ gewählt
Hunderttausende fordern ein neues Brexit-Referendum. Dabei treffen in London ganz unterschiedliche Beweggründe aufeinander.
Zuletzt waren 2003 bei der Demo gegen den Krieg im Irak so viele Menschen unterwegs. Und genau wie kurz vor dem Irakkrieg scheint die Regierung den Widerstand in der eigenen Bevölkerung auch dieses Mal ignorieren zu wollen. Das Referendum von 2016 müsse respektiert werden, hieß es bis jetzt immer wieder. So war es auch nicht überraschend, dass niemand aus der Regierung bei der Demo erschienen ist.
Die Stimmung unter den Demonstranten ist am Samstag trotzdem gut. Sie kommen aus allen Regionen Großbritanniens und aus allen Altersklassen. Die Atmosphäre bei dem Marsch ist fast karnevalähnlich, viele laufen in Verkleidung mit, und Straßenmusiker machen Musik für die vorbeiziehenden Anti-Brexit-Demonstranten.
Einer der Mitlaufenden ist der 20-jährige Kunststudent und Barmann Indigo Roberts aus London. Vor drei Jahren habe er keine Wahl gehabt, weil er damals erst 17 Jahre alt war. Erst mit 18 Jahren durfte man 2016 beim Referendum mitwählen. Er hätte damals „Remain“, also „Bleiben“, gewählt. Bei einer weiteren Abstimmung könnte er jetzt mitwählen, sagt er.
In der Menge läuft auch Ingrid Oostindie mit – sie ist 44 Jahre alt, Australierin mit holländischer Staatsangehörigkeit und wohnt in der südenglischen Seehafenstadt Bournmouth. Sie sagt, dass die Leute, die den Brexit gewählt haben, wohl alle tot sein würden, wenn der Brexit kommt – denn die Mehrzahl der Brexit-Stimmen kam 2016 von älteren Wähler*innen.
„Es gibt nichts Demokratischeres als eine Wahl“
Gründe für ein zweites Referendum gibt es am Samstag viele. Brexit-Befürworter hätten falschen Versprechungen geglaubt, steht auf den Plakaten der Demonstranten. Auch der Labour-Abgeordnete Chuka Umunna, der zu einem der Sprachrohre der Kampagne „People’s Vote“ geworden ist, wiederholt das auf der Bühne vor der Menge.
Die konservative Unterhausabgeordnete Sarah Wollaston aus Totnes in Devon tritt mit dem Labour-Abgeordneten Phil Wilson aus Sedgefield auf die Bühne. Wollaston vergleicht die derzeitige Situation mit den Gesprächen über eine Operation in einem Krankenhaus. „Plötzlich glauben die Ärzte, dass der Eingriff riskanter ist als vorher angenommen, doch der oder die Patient*in wird dennoch in den Saal geschoben, wegen einer Einwilligungserklärung, die vor zwei Jahren ausgestellt wurde oder gar vor zwei Jahren von den Eltern.“
Sadiq Khan, dessen Meinung als Londoner Bürgermeister etwas mehr wiegt als andere, traut sich ebenfalls und spricht über die Bedeutung des Verbleibs in der EU: „Es gibt nichts Demokratischeres, als eine Wahl über die Brexit-Optionen anzufordern.“ Nach ihm betritt eine Gruppe junger Menschen aus allen Teilen des Vereinigten Königreichs – Nordirland, Schottland, England und Wales – die Bühne. Auch sie sprechen sich einzeln für eine Volksabstimmung aus.
Am bewegendsten unter den vielen Sprecher*innen ist aber Shakira Martin, die Präsidentin der nationalen Studentengewerkschaft (NUS). Sie hat ihre beiden kleinen Mädchen im Vorschulalter mit auf die Bühne gebracht, denn der Brexit werde auch deren Zukunft stark beeinflussen: „Der beste Weg, die Zukunft vorherzusagen, sei, sie selber zu formen“, erklärt sie der versammelten Menge und jubelt über die Möglichkeit einer Volksabstimmung.
Schreiben, schreiben, schreiben
Gemeinsam rufen die Veranstalter*innen die Anwesenden dazu auf, die Stimme der Demo in alle Orte Großbritanniens zu tragen. Essenziell wichtig sei es auch, die parlamentarischen Abgeordneten direkt anzuschreiben.
Gegen Ende der Demo haben viele Teilnehmer*innen die Außenwände und Türen des Kabinettgebäudes mit knallgelben „Bollocks to Brexit“-Aufklebern plakatiert. Daneben war eine ganze Galerie von Plakaten zu sehen – sie zeigen die „Lügner*innen des Brexit“, wie Politiker*innen wie Boris Johnson, Jacob Rees-Mogg, Preeti Patel und David Davis genannt waren.
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