Steigende Zahlen, sinkender Widerstand

Die Zahl der neuen Corona-Infektionen und -Toten verdoppelt sich derzeit alle zehn Tage. Bund und Länder werden darum am Mittwoch wohl neue Beschränkungen beschließen – doch wie weit diese gehen werden, ist offen

Die teils gewaltsamen Proteste gegen die verschärften Corona-Auflagen in Italien reißen nicht ab: Tausende Menschen gingen am Montagabend erneut gegen die rigiden Einschränkungen auf die Straßen. In einigen Städten kam es nach Angaben des italienischen Fernsehens wie schon am Wochenende zu Krawallen. In Mailand randalierten Gegner der Maßnahmen in Straßenbahnen und zündeten Mülleimer an. Die Polizei setzte Tränengas gegen eine Gruppe junger Demonstranten ein, welche die Beamten mit Flaschen und anderen Wurfgeschossen angriffen. Ähnliche Szenen spielten sich in Turin ab.

Italiens Regierungschef Giuseppe Conte hatte am Sonntag nach einer erneuten Rekordzahl an Corona-Neuinfektionen weitere Beschränkungen angekündigt. Seit Montag bleiben Kinos, Theater und Fitnessstudios für einen Monat geschlossen. Für Restaurants und Bars wurde die bislang ab Mitternacht geltende Sperrstunde auf 18 Uhr vorverlegt. (afp)

Von Malte Kreutzfeldt

Als die Ministerpräsident*innen vor zwei Wochen im Kanzleramt zusammenkamen, konnten sie sich nicht auf deutlich strengere Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Epidemie einigen. Lediglich für Hotspots mit mehr als 50 oder 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner*innen und Woche gab es neue Kontaktbeschränkungen – mehr war gegen den Widerstand einiger Länder nicht durchzusetzen. „Die Ansagen von uns sind nicht hart genug, um das Unheil von uns abzuwenden“, soll Angela Merkel damals gesagt haben.

Wenn die Kanzlerin und die Mi­nis­ter­präsident*innen an diesem Mittwoch wieder konferieren, dürfte das Ergebnis anders aussehen. Denn Merkels Befürchtung hat sich bewahrheitet: In den letzten zwei Wochen ist die Coronasituation nicht besser, sondern dramatisch schlechter geworden. Die Zahl der Kreise mit mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Ein­woh­ne­r*innen und Woche, die vor zwei Wochen noch bei 36 lag, ist seitdem auf 199 gestiegen – weit mehr als die Hälfte des Landes ist jetzt ein „Hotspot“. Die Zahl der täglich gemeldeten Neuinfektionen, die damals im 7-Tage-Schnitt bei unter 4.000 lag, ist inzwischen mit rund 11.000 etwa dreimal so hoch; die Zahl der Coronapatient*innen auf Intensivstationen liegt mit rund 1.500 statt 600 zweieinhalbmal so hoch, die Zahl der gemeldeten Corona­toten hat sich auf knapp 40 pro Tag verdreifacht.

Alle drei Kurven laufen exponentiell, und zwar steiler als erwartet – die Zahl der Infizierten, Schwerkranken und Toten verdoppelt sich derzeit etwa alle 10 Tage. Die 19.400 täglichen Infektionen, die Merkel vor einem Monat noch als Schreckensszenario für Weihnachten an die Wand gemalt hatte, werden bei dieser Wachstumsrate schon Anfang November erreicht, die Intensivstationen wären bereits Anfang Dezember überfüllt, das notwendige Pflegepersonal dürfte noch früher knapp werden.

Noch mal zwei Wochen zuwarten, das können sich Bund und Länder also nicht erlauben. Die Situation sei „ausgesprochen schwierig“, sagte Merkel am Dienstag vor Pflegekräften. Zustimmung kommt von ihren Koalitionspartnern: „Jetzt sind schnelle und entschlossene Schritte nötig, um diese neue Infektionswelle zu brechen“, erklärte SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz. Die steigenden Zahlen lassen den Widerstand gegen schärfere Maßnahmen schrumpfen. „Lieber gleich und richtig als spät und halbherzig“, meint Bayerns CSU-Ministerpräsident Markus Söder. Und selbst Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Rainer Haseloff, der bisher zu den Bremsern gehört hatte, sprach sich am Dienstag nicht mehr gegen verschärfte Regeln aus, sondern forderte lediglich, dass diese zeitlich begrenzt sein müssten. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) forderte eine stärkere Einbeziehung der Parlamente, wandte sich aber ebenfalls nicht pauschal gegen schärfere Vorgaben.

Doch wie weit die neuen Einschränkungen gehen werden, ist bisher offen. Klar scheint lediglich: Einen echten Lockdown, also Ausgangssperren für alle ohne dringendes Anliegen, dürfte es – ebenso wie im Frühjahr – in Deutschland nicht geben. Die Produktivwirtschaft soll weiterlaufen, Besuche bei Alten und Kranken weniger stark beschränkt werden als im Frühjahr. Eine „Separation von Gesellschaftsteilen“ müsse vermieden werden, sagte Merkel dazu.

Wahrscheinlich scheinen dagegen starke Beschränkungen für private Treffen sowie für Kulturveranstaltungen, Amateursport und die Gastwirtschaft – auch wenn die Branche und Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) bereits gegen eine möglich komplette Schließung der Gastronomie protestierten.

Unklar ist, was in Schulen und Kitas geschieht. Sie für mehrere Wochen komplett zu schließen wie im Frühjahr soll nach Möglichkeit vermieden werden, ist aber je nach regionaler Entwicklung wohl auch nicht ausgeschlossen. „Für mich ist klar, die Schulen und Kitas werden als Letztes geschlossen“, sagte Söder. Ob es zu diesem „Letzten“ kommt, dürfte davon abhängen, wie scharf die sonstigen Maßnahmen ausfallen – und wie sie eingehalten werden.