Anschläge in Nigeria: Islamisten erklären den Krieg
Die bisher blutigste Anschlagsserie der islamistischen Gruppe "Boko Haram" fordert über 160 Tote. Diesmal traf es die größte Stadt des muslimischen Nordens von Nigeria.
BERLIN taz | Nigeria scheint endgültig in den ethnisch-religiösen Bürgerkrieg zu rutschen. Mindestens 160 Menschen sind seit Freitag in einer Serie von Bombenanschlägen und Kämpfen in Kano, mit neun Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt des Landes und die größte des mehrheitlich muslimischen Nordens, ums Leben gekommen. Die radikalislamistische Gruppe Boko Haram bekannte sich zu den Anschlägen.
Acht Orte im Zentrum von Kano wurden am Freitag abend nach Ende des Freitagsgebets innerhalb weniger Minuten von Bombenexplosionen erschüttert, teils durch Selbstmordattentäter im Auto verübt. Die Serie von rund 20 Explosionen, so Augenzeugen, löste Panik aus. Eine städtische Polizeizentrale wurde von einer Autobombe komplett zerstört. Bomben trafen auch die Zentralen der Immigrationsbehörde und des Staatssicherheitsdienstes SSS. Das regionale Polizeihauptquartier wurde von Bewaffneten angegriffen.
Während an unterschiedlichen Orten Großbrände loderten und dichter Rauch über dem Stadtzentrum aufstieg, entwickelten sich Schusswechsel zwischen Polizisten und Angreifern. In der Nacht zu Samstag schwärmte Polizei und Militär in der Stadt aus, und vereinzelte Kämpfe dauerten am Samstag an.
Abul Qaqa, ein Sprecher von Boko Haram, übernahm gegenüber der nordnigerianischen Zeitung Daily Trust telefonisch die Verantwortung für die Angriffe. Die islamistische Gruppe reagiere damit auf die Weigerung des Staates, inhaftierte Militante freizulassen, sagte er.
Im größten Krankenhaus von Kano, dem Murtala Muhammed Specialist Hospital, meldeten Mediziner am Samstag nachmittag 126 Tote. Wieviele Menschen sonst noch getötet waren, ist unklar. Bis zum Abend war die Zahl der bestätigten Toten auf über 150.
Ultimatum gestellt
Es sind die blutigsten Angriffe, die Boko Haram jemals verübt hat. Die Offensive der islamistischen Gruppe, die für einen islamischen Staat in ganz Nigeria kämpft, kommt jedoch nicht unerwartet. Zu Weihnachten 2011 hatte Boko Haram eine Serie koordinierter Angriffe auf christliche Kirchen in mehreren Städten des Landes verübt. Danach hatte sie Christen und Südnigerianern ein Ultimatum gestellt, den muslimischen Norden Nigerias zu verlassen.
Dass zeitgleich und landesweit Massenproteste gegen eine Benzinpreiserhöhung Nigeria lahmlegten, drängte diese Drohung zunächst in den Hintergrund. Doch seit die Regierung am vergangenen Montag nach einer Woche Generalstreik nachgab, wartete das Land eigentlich nur noch auf die nächste Stufe der Eskalationsstrategie Boko Harams – zumal das Zurückweichen von Staatschef Goodluck Jonathan im Benzinstreit als Zeichen staatlicher Schwäche intrepretiert werden konnte.
Vor wenigen Tagen war es einem der als Urheber der Weihnachtsanschläge festgenommenen Boko-Haram-Führer gelungen, aus der Haft zu entfliehen. Präsident Jonathan selbst sagte vorletzte Woche, die Islamisten hätten Unterstützung im Staatsapparat. Die Anschläge von Kano seien ein Beweis, dass "die Terroristen überall und jederzeit zuschlagen können", analysiert in Lagos die Zeitung P.M.News: "Wieder einmal sagt Boko Haram: wir sind klüger als ihr, ihr kriegt uns nicht!"
Die lokalen Behörden verhängten über Kano eine komplette Ausgangssperre, die vom Militär an Straßensperren überwacht wird. Die Neun-Millionen-Stadt ist multiethnisch und multireligiös, aber seit massiven ethnischen Unruhen vor rund zehn Jahren segregiert: Die meisten Christen und Südnigerianer haben sich im Stadtteil Sabon Gari gesammelt. Führer des christlichen südostnigerianischen Volkes der Igbo, aus dem in Kano so wie überall in Nigeria viele besonders gut überregional vernetzte Geschäftsleute stammen, warnten bereits, sie fühlten sich bedroht.
Tobias Michael Idika, Präsident des Igbo-Kulturverbandes "Ohanaeze" in Kano und Leiter des Dachverbandes der ethnischen Minderheiten in der Stadt, erklärte am Wochenende, die blutigen Anschläge hätten das Ziel, die drei Millionen "nicht-Indigenen" in Kano zu verängstigen, damit sie die Flucht ergreifen. Er rief die Provinzregierungen Südostnigerias dazu auf, die Evakuierung der Igbos aus Kano in die Wege zu leiten. "Manche von uns möchten bleiben und uns verteidigen, aber die Mehrheit drängen danach, den Norden zu verlassen, da die Ereignisse zeigen, dass der Norden nicht mehr sicher ist."
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