: Anruf bei Nacht
Haben Pferde Nieren? Eine brennende Frage unserer Zeit
Haben Pferde Nieren? Eine saudumme Frage, so dumm, dass die Diskussion darüber jahrelang nicht verstummen wollte, zumindest in meiner Heimatstadt. Dort hielt sich hartnäckig das Gerücht, die Pferdewurst schmecke deshalb streng, weil Pferde keine Nieren hätten. Die Muskulatur würde die Funktion der Niere übernehmen, sodass das gesamte Wasser, das ein Pferd saufe, durch das Muskelfleisch geschwemmt werde. Die leicht bittere Note der Pferdewurst entstehe durch die im Fleisch zurückbleibenden Harnstoffe.
Dass ein derart abseitiges Thema die Jugend einer ganzen Stadt auf Trab halten kann, mag skurril klingen. Andererseits fügt ein permanentes populärwissenschaftliches Symposium über die Harnverarbeitung des Pferdes der Jugend weniger Schaden zu als Nazilieder singen oder FDP wählen. Zumal nur ein weiteres Thema der Pferdepisse das Wasser reichen konnte, der Fußball. Pimpern, angeblich „Thema Nummer eins“, dümpelte träge auf Rang drei.
Wem nun vor dem geistigen Auge das Bild dumpfer, Pferdewurst schmatzender Halbstarker erscheint, der möge folgende Geschichte lesen. Wir saßen in einer Gaststätte. Mitternacht war vorüber, und wie so oft kreisten die Gespräche um das Thema Pferdenieren, als ein elfmalkluger Mitdiskutant von seinem unbändigen Forschergeist gepackt wurde. „Jetzt will ich es wissen“, sprach er, ging zum Tresentelefon, blätterte im Telefonbuch und wählte eine Nummer. „Der Härting“, sagte er triumphierend, während er mit dem rechten Zeigefinger auf die Muschel des Hörers an seinem linken Ohr deutete. Atemlose Stille. Alle warteten auf die Frage aller Fragen an den Pferdemetzger, doch der Forscher nickte nur, sagte artig „vielen Dank“ und legte auf. Als er zum Tisch zurückkehrte, war er stocknüchtern.
Dann sprach er die drei magischen Worte, die einen langen und oft verbissen geführten Diskurs wie mit einem Schwerthieb für immer beendete: „Sie haben Nieren.“ Von da an redete er nie wieder über Pferdenieren. Man stelle sich das einmal vor: Mitten in tiefster Nacht nimmt ein Pferdemetzger einen Anruf entgegen und beantwortet eine vollkommen hirnrissige Frage, ohne auch nur anzudeuten, dass die Frage hirnrissig und der Zeitpunkt des Anrufs unerhört ist, und vor allem: ohne dass die Frage überhaupt gestellt wurde!
Arbeiten Pferdeschlächter nachts und sind solche Anrufe gewohnt, sodass sie brav antworten, ehe die Frage gestellt wird? Hat der Schlachter ein Band eingelegt, das nach Mitternacht immer nur den Satz „Sie haben Nieren“ abspult? Wir haben es nie erfahren. JOACHIM FRISCH
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